Jazzmusikern fällt es 1999 zunehmend schwerer, aus dem ständig wachsenden Haufen geballter Einfallslosigkeit herauszustechen. Deckungsgleiche Besetzungsprofile, analoges Programm, ständig wiederkehrender Ablauf, manchmal sogar verblüffend ähnliche Soli: die Unterschiede liegen meist nur noch im partiellen, für das Publikum kaum mehr wahrnehmbaren Bereich.
Angesichts solch schleichend grassierender Monotonie wirkt ein Vibraphon im Neuburger „Birdland“-Jazzclub beinahe wie ein belebendes Erfrischungsbad. Wenn dies dann noch von einem der mithin renommiertesten europäischen Vertreter dieser unorthodoxen Zunft bedient wird, so muß sich der geplagte Fan gar wie im Schlaraffenland der Kreativität vorkommen. Wolfgang Lackerschmid, seit Jahren ein verlässiger Garant für ausgefallene, kurzweilige Perspektiven, hatte diesmal freilich besonders tief in die Trickkiste gegriffen. Seine dabei entdeckte Variante ist zwar keinesfalls neu, dafür aber zeitlos spannend, gefällig, absolut mitreißend und von erstaunlicher Virtuosität.
Kennen Sie das Dave Pike Set? Jene vierköpfige, mit Gitarre, Baß, Schlagzeug und Vibraphon ausgestattete Kultband, die Anfang der 70er in Deutschland die feststehenden Grenzen zwischen Jazz, Rock und Funk einfach niederriß? Pike und seine Mannen standen damals für einen neuen, zeitgenössischen Jazzstil und wurden von den Wortführern des musikalischen 68er-Pluralismus als populäre Antwort auf den elitären Bildungsdünkel des bürgerliche Kulturbegriffs gefeiert. Das Erfolgsrezept geriet freilich mit der Auflösung der Band schlagartig in Vergessenheit – bis Lackerschmid es jetzt wieder frech zum Leben erweckte.
Warum dies vor ihm noch niemand tat, bleibt angesichts der unwiderstehlich treibenden Groovelawine, die der Augsburger zusammen mit seinem international besetzten Quartett im Hofapothekenkeller lostrat, völlig im Dunkeln. Lackerschmid steuert jeden Adrenalinstoß mit seiner ausgependelten Spielweise zwischen weichem und boppigen Anschlag, sanft nachklingenden und hart perkussiven Tönen. Der ehemalige Chet-Baker-Intimus weiß genau, daß ein Vibraphon nie wie ein billiger Klimperkasten klingen darf, sondern erst mit komplex phrasierten Linien richtig zu überzeugen weiß.
Die wie ein Uhrwerk ineinanderlaufende Formation um den soulig pickenden amerikanischen Gitarristen Ed Cherry, den wieselflinken Bassisten Cameron Brown und den wuchtigen Drummer Karl Latham meidet bewußt alles, was nach „Great American Songbook“ riecht. Stattdessen favorisieren die vier selbstgestrickte latin-, bronx- und afrolastige Nummern, ostinate Rhythmusfiguren, krumme Takte sowie ästhetische Eigenwilligkeiten, die erst durch ihren repetitiven Charakter eine hintergründig-rauhe Schönheit entwickeln.
Im „Birdland“ jedenfalls gilt spätestens seit der zweiten, frenetisch erklatschten Zugabe, einem rattenscharfen Blues mit vielen funkelnden improvisatorischen Perlen: wenn schon eine Kopie, dann bitte von dieser Güteklasse. Sie penetriert nicht, sondern fordert. Und vor allem: sie kann ausgelaugte Jazzköpfe höchst trefflich unterhalten.