Mark Turner Quartet | 12.02.1999

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Wundersames Birdland. Manchmal streift der Neuburger Keller einfach für einen Abend sein bewährtes Flair als kommerzielle Heimstätte des großen amerikanisierten Club-Business ab und verströmt urplötzlich den Charme einer studentischen Teestube. Dann wird aus dem piekfeinen Gewölbe unter der Hofapotheke mit einem Mal ein Jazzasyl für den unbekannten Trend, für`s lustvolle Scheitern oder schlicht für fundamentalistische Dickköpfigkeit.

Es muß wahrlich nicht immer tuttelige, vom Publikum mit offenen Armen empfangene Mainstream-Behaglichkeit sein. Ein völlig aus dem konventionellen Rahmen fallendes Konzert wie das des amerikanischen Shootingstars Mark Turner beweist sogar, daß in Neuburg mittlerweile auch der Anti-Zeitgeist eine Nische findet. Ob Absicht oder nicht: gerade dieser Trend verleiht den unentwegten Bemühungen des „Birdland“-Clubs erst die richtige Glaubwürdigkeit. Hier passieren inzwischen Dinge außerhalb der klaren Ordnung, aber voll tieferen Sinns.

Der Tenorsaxophonist aus Ohio, ein Studienkollege von Joshua Redman und nach Meinung von US-Kritiker mit mindestens dem selben üppigen Talentpotential gesegnet, will im restlos ausverkauften Gewölbe niemals eine irgendwie geartete falsche Innovation verkaufen. Seine Sichtweise des Jazz schlägt keine Breschen, stürzt keine Heiligtümer, setzt keine Signale. Vielmehr bemüht sie sich um die subjektive, überraschend konventionelle Ausformung der Lyrik eines Lennie Tristano aus den 50ern. Mit hohem Differenzierungsvermögen und grenzenloser Phantasie konstruiert Turner unablässig eigenwillige Skalenfolgen, kontemplative Linien und weitgeschwungene Achtelketten vom untersten Register bis hinein in den Obertonbereich. Ohne Zweifel ein Bläser der Gattung „Junger Kopfmensch“.

Up-Temponummern wie „In This World“ klingen bei ihm wie intellektuell formulierte, schroffe Kriegserklärungen, Balladen wie ein Stück anonymes Leben und Sterben in der Großstadt. Das Quartett des 33jährigen tauscht den trügerischen Wohlklang des Piano manchmal gegen eine der sperrigsten Gitarren der Gegenwart (beides erfindungsreich bedient von Kurt Rosenwinkel). Sämtliche dabei entstehenden akustischen Bilder verfügen nach einer gewissen Eingewöhnungsphase über die Qualität von impressionistischen Kunstwerken.

Wenn die gaumig-gläsernen Läufe Rosenwinkels zwischen Baß (Doug Weiss) und Schlagzeugbesen (Jorge Rossy) hin- und herzucken und schließlich verhallen, wie in den Straßenschluchten Manhattans morgens um Fünf, wenn sich das machtvoll-grübelnde Tenor Mark Turners aus einem Kanaldeckel schiebt, wenn die Begleiter ihre stillen Widerhaken hinter jeder Hausecke auslegen, dann tritt die Eloquenz völlig in den Hintergrund. Solch großartige Musik schafft es, im Laufe der Zeit eine ungefähre Ahnung von der Brüchigkeit der Gegenwart zu erzeugen. Und von der Brüchigkeit einer ganzen Tradition.