Presse

South West Oldtime All Stars (Audi Forum Ingolstadt) | 25.04.2024
Donaukurier | Karl Leitner
 

Die Hiobsbotschaft kommt einen Tag vor dem Konzert. Der 78-jährige Schlagzeuger Trevor Ri­chards, vor langer Zeit Schüler von Zutty Singleton, dem legendären Drummer in Louis Armstrong ’s Hot Seven, und somit allein auf Grund seiner Vita einziges noch aktives Bindeglied zum Zeitalter des Oldtime Jazz, muss krankheits­bedingt absagen.

Das bedeutet für die South West Oldti­me All Stars, dass sie für ihr Konzert im Audi Forum von jetzt auf gleich erstens ein komplett neues Programm zusam­menstellen müssen und zweitens einen „Ersatzmann“ an den Becken und Trom­meln brauchen. Wobei „Ersatzmann“ die völlig falsche Bezeichnung für Paul Hochstädter ist, der normalerweise bei der hr-Bigband unter Vertrag steht. Er gehört zu der Sorte von Musikern, denen man nur ein Notenblatt aufs Pult legen muss, und sie spielen ihren Part auch ohne großes vorheriges Üben absolut souverän und auf den Punkt. Was er im Audi Forum abliefert, ist einfach nur großartig. Ein Attribut, das aber ebenso auf seine Kollegen zutrifft. Auch Martin Auer (Trompete), Felix Fromm (Posau­ne), Gary Fuhrmann (Altsaxofon, Klari­nette), Jürgen Zimmermann (Tenor- und Baritonsaxofon, Klarinette), Thomas Sta­benow (Kontrabass) und Johannes von Ballestrem (Klavier) stellen sich mühelos auf die neue Situation ein und liefern dem Publikum ein zwar in dieser Ausrichtung unerwartetes, aber genau deswegen um so spannenderes Konzert.

Bereits die Eröffnungsnummer umreißt die Situation. „Things Ain’t What They Used To Be“, zu deutsch: „Die Dinge sind nicht das, was sie ein­mal waren“. Wenn etwas auf diesen Abend zutrifft, dann der Titel die­ser Duke Elling­ton-Komposition. Um genau ihn wird es in den darauf folgen­den knapp zwei Stun­den gehen. Ellington hätte heuer 125. Ge­burtstag, was es gilt zu würdigen. Die Art und Weise, wie das vor sich geht, ist vom Konzept, der Musikauswahl und der Durchführung her einmalig. Man hatte einfach nur eine allseits be­kannte Varian­te des „Oldtime Jazz“ mit vielen bekann­ten Melodien erwartet und bekam statt dessen vor der Pause die Welt-Urauf­führung einer höchst originellen neuntei­ligen Bearbeitung von Tschai­kowskys „Nussknacker Suite“, die sei­nerzeit El­lington für seine Zwecke nutz­te, indem er die Beziehungen der einzel­nen Teile untereinander kom­plett neu ge­staltet hat­te. Die Band liefert nun die „Bearbeitung der Bearbeitung“. Welch tolle Idee. Nach der Pau­se sind – was wiederum nicht zu erwar­ten war – zwar Originalnummern von El­lington an der Reihe, bis auf „Ca­ravan“ und „Mood Indigo“ aber nicht dessen Hits, sondern sehr selten oder so gut wie nie zu hörendes Material auch aus dem Dunstkreis seiner Band.

Don Redman’s „Cherry“, Johnny Hod­ges‘ „Krum Elbow Blues“ und Elling­ton’s „Sponge Cake & Spinach“ und all die anderen werden zu echten Perlen, die erfreulicherweise rein gar nichts zu tun haben mit Nostalgie, Vintage oder Old School, weil sie ver­mutlich tatsäch­lich für viele im Auditori­um neu oder zu­mindest nicht sonderlich bekannt sein dürften, es nach all der Zeit also immer noch viel Neues zu entdecken gilt, und weil sie so dermaßen spritzig und doch hochkonzen­triert dargeboten werden. Mit dieser Band als Gratulanten feiert Elling­ton nur auf dem Papier 125. Ge­burtstag. In Wirklichkeit lebt er noch. Durch sei­ne Musik. Und wie!


Osby – Arbenz – Krijger | 20.04.2024
Donaukurier | Karl Leitner
 

Die Band hat nicht mal einen eigenen Namen, sondern tritt bei ihrem denkwürdigen Konzert im Neu­burger Birdland-Jazzclub ganz schlicht unter den Namen ihrer Mitglieder auf.

Greg Osby aus St. Louis, Missouri, am Altsaxofon, war Teil der Bands von Diz­zy Gillespie und Herbie Hancock und gilt als Schnittstelle zwischen den „Al­ten“ und den Nachfolgegenerationen des Jazz. Florian Arbenz aus Basel am Schlagzeug arbeitet an einem 12-teiligen Mammutwerk mit wechselnden Band­mitgliedern, ist aktuell bei „Conversati­ons #9“ angelangt und deswegen auch der Hauptkomponist der Band, Arno Krijger aus dem niederländischen Ter­neuzen hat nicht nur eine- Jazz- sondern auch eine Funk- und Fusion-Vergangen­heit und ist deutlich hörbar von Larry Young beeinflusst und auch ein klein we­nig von Larry Goldings, der passen­derweise am nächsten Freitag ins Bird­land kommt.

Die Band spielt inklusive Zugabe ledig­lich neun lange Stücke an diesem Abend. Jedes freilich ist für sich ein Kunstwerk. Da sind die flächigen, auf Clustern und lang anhaltenden Bögen ruhenden, inti­men Kompositionen wie gleich zu Be­ginn „Sleeping Mountain“ oder später „The Passage Of Light“, da sind die flot­ten Groove-Nummern mit Funk-Ein­schlag wie „Hurt“ oder „Truth“ und da sind sozusagen die Extras, „Old Shaman“, das auf indigenen Rhythmen basiert, oder der „Freedom Jazz Dance“ von Eddie Harris, dessen Thema zwar allgemein bekannt ist, das man aber nach der Bearbeitung durch dieses hochkrea­tive Trio förmlich mit der Lupe suchen muss.

Jeder ist ein wahrer Meister seines In­struments. Osby’s klarer, reiner Ton, sein Spiel immer wieder gegen den Groove, seine absolut passgenauen Einwürfe von der Seitenlinie statt ellenlanger Soli. Die Polyrhythmik hinter dem Spiel von Ar­benz, die er zu einem perfekt geknüpf­ten Teppich für seine Kollegen ausrollt,. Schließlich Krijger, der die vielfältigen Klangvarianten seines Instruments bis zur Neige auslotet, Klangflächen schafft als Basis für seine Kollegen, Hauptver­antwortlicher ist für die zahlreichen Pas­sagen des dynamischen Auf- und Ab­schwellens, die das Konzert bestimmen, für die weiten Spannungsbögen.

Es gibt Momente an diesem Abend, die sind magisch. Wenn etwa nach der ge­meinsamen Ekstase Krijger einfach nur einen tiefen, mit den Fußpedalen erzeug­ten, Bassbrummton stehen lässt, der die Szenerie auf wundersame Weise beru­higt, Zeit zum Durchatmen verschafft bis zum nächsten akustischen Ansturm. Man kann nur erahnen, welch enorme Arbeit hinter diesen verwegenen Arrangements steckt, in die sich die Soli wie zufällig hineinschleichen, welche Absprachen vorab getroffen wurden. Wie auch im­mer, die Sache läuft wie geschmiert, all die Breaks, Stops und Richtungswechsel klappen reibungslos, die Grooves laufen und am Ende beweist dieses überragende Trio sogar, dass es auch dann perfekt funktioniert, wenn es sich einen Standard wie Gershwin’s „I Loves You Porgy“ zur Brust nimmt und ihn auf eher herkömm­liche Art interpretiert. – Was für ein überragen­des Konzert, was für ein be­geisternder Abend, was für atemberau­bende Musik. Wer bei Osby, Arbenz und Kijger in Neuburg ver­hindert war, hat in der Tat Großartiges versäumt.


Osby – Arbenz – Krijger | 20.04.2024
Neuburger Rundschau | Reinhard Köchl
 

Es braucht schon fünf kräftige und rückenstabile Jungmannen, um so ein Monstrum die Treppen des Hofapothekenkellers runter und wieder rauf zu schleppen. Rund 130 Kilo wiegt eine original B3 Hammondorgel, und der Niederländer Arno Krijger hat eines der wenigen noch existierenden Exemplare ausgerechnet ins Neuburger Birdland mitgebracht. Natürlich würde es auch eine Spur leichter, kleiner, komfortabler und zeitgemäßer gehen. Aber jeder Organist, der einmal seine Finger auf eine B3 gelegt hat, schwärmt geradezu von dem unverwechselbaren Klang, dem räumlichen, weiten Sound, der durch den eingebauten Federhall entsteht und der sich eigentlich kaum beschreiben lässt.

Wohl dem also, dem solch eine Königin der Tasteninstrumente eine Audienz gewährt (und der wie das Birdland über das entsprechende Personal für den Transport verfügt). Einmal aufgebaut, geht Krijgers Hammond B3 gleich in einen intensiven, adrenalinhaltigen Dreistellungskampf mit einem Altsaxofon, das von der mittlerweile 63-jährigen, einstigen Gallionsfigur des New Yorker M-Base-Collectives, Greg Osby, gespielt wird und einem Schlagzeug, ständig in Bewegung gehalten von dem Schweizer Tausendsassa Florian Arbenz. Und, oh Wunder: die Orgel bestätigt nachhaltig ihren längst legendären Ruf – ebenso übrigens wie die beiden Mitstreiter dieses geradezu sensationellen Trios.

Natürlich ist es wieder mal – laut. Vor allem vom Drumset her schiebt sich eine wuchtige Phonwelle unwiderstehlich ins Gewölbe. Und es ist kochend heiß, die Musik fließt wie ein dicker, glühender Lavastrom breiig von der Bühne herunter. Häufig groovt es, was bei der Beteiligung einer Hammondorgel eigentlich immer im Preis inbegriffen ist; mal soulig, mal rockig, mal fluffig. Aber da wir uns ja in einem Jazzkonzert befinden, geht es den drei Instrumentalisten natürlich in erster Linie um die Erforschung unentdeckter Wege der Improvisation. Und hier erwischen Arbenz, Osby und Krijger in Neuburg wirklich einen absoluten Glückstag. Die Art, wie sie ihre Exkurse ineinander verschränken, zeugt von großer Vertrautheit und dem raren Grundsatz des Sich-etwas-gönnen-Könnens. Denn jeder darf an diesem besonderen, über zweistündigen Abend im Birdland weidlich unter Beweis stellen, was er alles draufhat, aber auch, zu welch raffinierten Übergängen ein derart heterogenes Trio eigentlich in der Lage ist.

Ein Ereignis für sich wäre allein schon Greg Osbys raffiniert eigenständiges Spiel. Der Alto-Virtuose belegt auf hinreißende Weise, dass er auch 2024 immer noch einer der weltweit Besten und vor allem Schnellsten ist. Die Art, wie er kunstvoll und geschwind Melodien im Stile eines Töpfers modelliert und dabei stets diesen erhabenen, noblen Ton wie ein Leuchtfeuer aufrechterhält, sucht in der Szene immer noch ihresgleichen. Arno Krijger schiebt derweil seine fetten Blockakkorde zwischen das Saxofon und Florian Arbenz mal wuchtiges, mal geheimnisvoll gründelndes Drumming kann auch seltene illuminierte Farbkleckse wie in „The Passage Of Light“ produzieren, einer Ballade zum Niederknien. Mehr als eine Randnotiz ist der Auftritt des Schlagzeugers unmittelbar nach der Pause. Da nimmt sich Arbenz alle Zeit der Welt und die Freiheit, ein superlanges Solo abzuliefern – weil er es einfach kann!

Die große Klasse des mehr als flotten Dreiers wird vor allem in den Adaptionen sattsam bekannter Standards wie „I Love You Porgy“ oder der völlig abgefahrenen Version des Eddie-Harris-Klassikers „Freedom Jazz Dance“ offenkundig, in dem sich Krijger, Osby und Arbenz immer wieder atemberaubende Sprints ins Modale liefern, um dann irgendwann die Gefährten wieder aufschließen zu lassen, damit diese zum Finale Furioso durchstarten können. Solche Erlebnisse gibt es nur mit einer echten Hammondorgel. Und die nächste kommt schon in wenigen Tagen am Freitag zusammen mit dem mehrfachen amerikanische Downbeat-Pollsieger Larry Goldings. Jede Wette, dass diese Version noch ein klein bisschen schwerer wird.


Anna Lauvergnac Quartet | 19.04.2024
Donaukurier | Karl Leitner
 

Anna Lauvergnac gibt die Devise für das Konzert ihres Quar­tetts im Neuburger Birdland Jazzclub frühzeitig selbst vor. Um die Liebe wird es gehen in den nächsten knapp zwei Stunden, um Lieder zu diesem immer­währenden Thema, weil die Sprache der Musik universell sei und überall verstan­den werde und damit auch das, worum es inhaltlich gehe.

Zu Beginn des Abends hat man fast den Eindruck, Anna Lauvergnacs Stimme sei angeschlagen. Seltsam „belegt“ wirkt sie und fast schwerfällig kommt einem die Intonation vor. Ab dem dritten Song, ei­ner sehr gelungenen Version von Gers­hwin’s „It Ain’t Necessarily So“, ist die­ser Eindruck plötzlich wie weggebla­sen. Als hätte die Sängerin den Songtitel ir­gendwie wörtlich genommen. Lauver­gnac, geboren in Triest, lange Jahre Vo­kalistin beim Vienna Art Orchestra, hat sich als Begleitband das Claus Raible Trio ausgesucht mit Raible selbst am Klavier, Giorgos Antoniou am Kontra­bass und Xaver Hellmeier am Schlag­zeug, eine seit Jahren bestens eingespiel­te Truppe also und somit ideal geeignet für den ihr zugedachten Part.

Lauvergnac, ausgestattet mit einer tie­fen, sonoren, warmherzigen Stimme, singt auf eine Art und Weise, die zu Her­zen geht. Nichts Oberflächliches, Vor­dergründiges findet man in ihren Interp­retationen fremder wie auch eigener Stü­cke. Wenn man sie hört, spürt man gleichzeitig Verlässlichkeit, Vertrauen, tiefe Verbundenheit, Ehrlichkeit, reifen Umgang mit dem Thema, nie künstliches Girlie-Gehabe. Hier ist jemand am Werk, der als Künstlerin glaubwürdig ist und einem Thema Glaubwürdigkeit verleiht, das eigentlich, nachdem sich Hinz und Kunz in der Musikbranche fortwährend mit ihm beschäftigt hat, oft allzu abge­droschen wirkt. Nicht in diesem Fall. Bei Lauvergnac ist Inhalt wichtiger als Pose, eine ausdrucksstarke Stimme wichtiger als ein rekordverdächtiger Tonumfang.

Ähnliches gilt auch für Claus Raible. Der war schon oft – in unterschiedlichen Missionen – im Birdland zu Gast, bleibt aber immer er selbst. Auch er legt sein ganzes Herzblut in sein Spiel – weswe­gen sich er und seine Partnerin ja auch so gut ergänzen – , garniert das aber mit seiner typisch lässigen Coolness, die sich schon allein darin ausdrückt, wie er auf seinem Stuhl mit Lehne sitzt, sich nach hinten zurücklehnt, seine rechte Hand wie im Sturzflug auf die Tastatur hernieder sausen lässt, als Arrangeur je­dem der von ihm überarbeiteten Songs ein eigenes, individuelles Markenzei­chen, eine Akkordfolge, eine melodische Be­gleitfigur quasi auf den Leib schreibt, ihn ohne Copyrightverletzungen sozusa­gen zu seinem eigenen macht. „Close Your Eyes“, When The Earth Stood Still“ und Ella Fitzgerald’s „Too Close For Comfort“ kann man ebenso als Bei­spiele heranziehen wie „Lullabye Of The Leaves“ und „Lover Come Back To Me“. Und als Band und Vokalistin zum Ende hin dann auch noch mit dem „Blow Top Blues“ und dem „Hum Drum Blues“ auf absolut souveräne Art in das seelen­verwandte Nachbar­genre des Jazz hin­einschnuppern, kann man trotz anfängli­cher Probleme von einem über­aus gelun­genen Konzert mit zeitloser und doch in­dividuell auf diese Besetzung zuges­chnittener Mu­sik zu einem sich nie er­schöpfenden Thema sprechen. Ein in sich stimmiger, überaus angenehmer Abend.


Anna Lauvergnac Quartet | 19.04.2024
Neuburger Rundschau | Reinhard Köchl
 

Die Barfußfrau hat jetzt Schuhe an. Ist vielleicht auch bequemer, als in einem Kellergewölbe ständig ohne Schutz auf einem blanken Steinboden herumzulaufen, zu tanzen und dabei noch zu singen, wie sie das früher und unter großer Anteilnahme der Birdland-Besucher getan hat. Aber Anna Lauvergnac ist nicht mehr ganz dieselbe, die bei ihren bisherigen Gastspielen in Neuburg – dem bislang letzten nur wenige Wochen vor Ausbruch der Pandemie – in schöner Regelmäßigkeit für Begeisterungsstürme sorgte. Natürlich älter – was auch für ihr Publikum zutrifft –, aber auch ein bisschen ruhiger, per se keineswegs schlechter, vielleicht etwas mainstreamiger, nicht mehr ganz so straight und ohne die für sie lange übliche Kiste voller Überraschungen im Reisegepäck.

Und wie ihre Füße scheint auch ihre Stimme inzwischen irgendwie domestiziert zu sein, eingesperrt, so, als könnte sie sich nicht mehr beliebig dorthin bewegen, wo sie gerade will. Das war in den vergangenen Jahren anders. Da segelte die im italienischen Triest geborene und von der legendären Sheila Jordan unter ihre Fittiche genommene Vokalistin wie ein Vogel durch die Themen, ließ sich treiben, selbstvergessen, versunken, schwere- und willenlos. Der Inbegriff von künstlerischer Freiheit. Nun agiert Anna Lauvergnac zwar immer noch wuselig, aufgedreht, aber auf bislang eher ungewohnte Weise routiniert; ausgerechnet die Frau, die wie ein Kobold aus der Kiste jedes Konzert zu jeder Sekunde neu zu erfinden schien. Hinter ihr agiert mit enormer Prägnanz und Souveränität ihr längst etabliertes Begleittrio mit ihrem musikalischen Dauerpartner, dem abermals hinreißenden Piano-Faktotum Claus Raible, dem klug Linien zusammenknüpfenden Bassisten Giorgos Antoniou sowie dem extrem mannschaftsdienlich agierenden Schlagzeuger Xaver Hellmeier.

In den ersten beiden Songs „The Very Thought of You“ und „Pick Yourself“ hat es fast den Anschein, als würde Anna Lauvergnac die Stimme wegbrechen. Aber das kommt einem durchaus vertraut vor, denn aus ihrer Unperfektheit verstand sie es bislang immer wieder, ein sympathisches, menschliches Gesamtbild modellieren zu können. Und dann fängt sie sich, bekommt die schwierige Anfangssituation in den Griff und beginnt, wie immer mit dem Publikum zu spielen, kokett mit Gesten und körpersprachlichen Elementen, erzählt viel zwischen den Stücken und beschreibt, worum es in ihrem bunten Strauß aus balladesken Standards wie dem rastlosen Schlaflied „Close Your Eyes“, dem spröden „Too Close to Comfort“ oder dem zweifelnden „This Cant Be Love“ geht: nur um Liebe. Es ist Lauvergnacs Lebensthema. Mach die Augen zu, denn schöner kann es nicht werden. Oder: Komm mir nicht zu nahe, weil das einfach keine Liebe sein kann. Und es klingt einmal mehr, als wisse die Frau ganz genau, worüber sie da singt.

In rigiden Up-Tempo-Nummern versucht sie sich gegenüber dem homogenen, druckvoll groovenden Trio, bei dem vor allem Claus Raible immer wieder kleine instrumentale Preziosen ins Geschehen wirft, zu positionieren, erreicht aber nicht immer dessen Intensitätslevel. Freilich gibt es auch hier die gewohnten Ausnahmen: den „Hum Drum Blues“ oder die fulminante Zugabe „Music Is“, eine feine Eigenkomposition von Lauvergnac und Raible. Aber irgendwie mag der Funke an diesem Abend nicht so recht ins Publikum überspringen. Ihre leicht laszive, mitunter herbe Altstimme verfehlt ein paarmal die richtigen Töne, doch auch das kennt man noch von früheren Auftritten.

Am Schluss bleibt die Gewissheit, dass man bei einem durchaus guten, soliden Konzert mit dabei sein durfte. Aber eben bei keiner Sternstunde, wie das früher oft der Fall war. Völlig normal bei einer intuitiven Künstlerin wie Anna Lauvergnac, die in ihrem Gesang immer wieder ihre Tagesform durchscheinen lässt. Denn in erster Linie ist auch sie nur ein Mensch.


Linda May Han Oh Quartet | 13.04.2024
Neuburger Rundschau | Reinhard Köchl
 

Schon wieder eine Frau. Muss man darauf noch eigens hinweisen, oder gehört dies nicht schon längst zur Realität im Neuburger Birdland-Jazzclub? Tatsache ist, dass von neun Konzerten im April allein sechs Gruppen dabei sind, die von weiblichen Instrumentalisten oder Vokalisten geleitet werden. Für Clubchef Manfred Rehm stellt dies 2024 den Ist-Zustand in einem kulturellen Genre dar, das früher als reine Männerdomäne galt, bei dem aber, so der Impresario, „mittlerweile nur noch ein Kriterium den Ausschlag gibt: nämlich Qualität.“

Die Besten spielen eben in einem der besten Jazzclubs Europas, egal ob weiblich oder männlich – so einfach ist das! Und weil immer mehr gut ausgebildete Frauen mit interessanten Konzepten und herausragenden Fertigkeiten nach oben drängen, findet dies zunehmend im Birdland-Programm seinen Niederschlag. Das nächste Beispiel für weibliche Kreativität trägt den Namen Linda May Han Oh. Die in Malaysia als Tochter chinesischer Eltern geborene, in Australien aufgewachsene und heute in New York lebende Bassistin (Selbstbezeichnung: „Harlem-based Aussie“) gilt längst als eine der besten Tieftönerinnen der Welt, wurde vier Mal zur Bassistin des Jahres gekürt und begleitet Superstars wie Pat Metheny, Joe Lovano, Dave Douglas, Kenny Barron, Terri Lynn Carringtion oder Vijay Iyer.

Die Neugier auf eine der interessantesten Musikerinnen der Gegenwart hatte zum wiederholten Mal den Hofapothekenkeller bis auf den letzten Platz gefüllt. Und die, die gekommen waren, wussten, dass sie kein „Easy Listening“ erwarten würde. Denn für jedes Konzert gibt es dort längst ein eigenes, ein anderes Publikum, das sich genau aussucht, was es hören und sehen will. Und so kommt es auch zwangsläufig, dass Linda Oh und ihr Quartett um Sängerin Sara Serpa, Pianist Fabian Almazan und Drummer Mark Withfield jr. mit ihrer kompromisslosen, nicht ohne Ecken und Kanten auskommenden, zwar etwas kurzen, aber dennoch zauberhaften Performance das Gewölbe zu lautstarken Beifallsbekundungen bringen.

Die Bassistin schreibt Stücke, in denen sie Tonarten einen bestimmten Anstrich zuordnet: G klingt für sie nach Gelb, E nach Grün, C neutral, F irgendwie bläulich. Man musste das nicht unbedingt nachvollziehen können, um ihr Konzert als bunt zu empfinden. Vermutlich liegt es daran, dass die 39-Jährige mit klassischer Musik aufwuchs, dann zur Rockmusik konvertierte und in Teenagerjahren den Reizen des Jazz erlag. All dies fließt in ihre traumhafte Klangwelt ein. Oh vertont die Zerbrechlichkeit des Lebens und erforscht die Widersprüche, die in unseren gesellschaftlichen Werten verankert sind. Auf ihre ureigene, spannende Weise verbindet sie in Kompositionen wie „Respite Chimero Hatching“, „The Imperative Antiquity“ oder der zärtlichen Ballade „Optical Illusion“ (eine Hommage an alle Kinder der Erde) die kollektive klangliche Erkundung ihrer Notenwerke mit kühnem Improvisationsgeist.

Die vier Musikerinnen und Musiker agieren verhalten, zurückhaltend, so als würden sie sich ganz vorsichtig über eine dünne Eisfläche bewegen. Ihr bewusst anti-populistisch angelegtes Konzept, ein tiefes musikalisches Universum aus linearen und zyklischen Formen, erfordert offene Ohren, Herzen und Sinne, belohnt aber dafür reichlich. Selbst wenn sie mutig akustische Elemente mit Elektronik in einem primär auf unverstärkte Klänge geeichten Raum vermischen und der doppelstimmige, wortlose Sirenengesang von Sara Serpa und Linda Oh altbewährte Hör-Erwartungshaltungen über den Haufen schmeißt, bleibt es ein stimmiger, ganz besonderer Abend. Mit einer Bassistin im Auge des leisen Taifuns, die klug und mit untrüglichem Timing agiert, wendige Linien zu intonieren weiß, mit Flageoletts Farbtupfer wie unaufdringliche Ausrufezeichen zu setzen versteht und einen munteren Dialog zwischen tiefen und hohen Lagen moderieren kann. Linda May Han Ohs unbegleitetes Solo in „Jus ad bellum“ (Das Recht auf Krieg) ragt jedoch aus allem heraus. Nicht nur musikalisch.


Linda May Han Oh Quartet | 13.04.2024
Donaukurier | Karl Leitner
 

Eine Band wie diese hat man nicht alle Tage. Nicht mal im Jazz, nicht mal im Birdland in Neuburg, dessen Programm ja immer wieder mal mit unüblichen Spielformen dieses so immens vielfältigen Genres aufwartet. Zwei Stimmen stehen diesmal im Mittelpunkt, die über weite Strecken des Abends ohne Text auskommen und dennoch das Markenzeichen dieser Formation und deren versponnener und doch gleichzeitig so überaus spannender Musik sind.

Linda May Han Oh, geboren in Malaysia, aufgewachsen in Australien, wohnhaft in New York, hat sich in Neuburg eingefunden. Sie selbst spielt Kontrabass und E-Bass – zuhause in den USA unter anderem auch mit Größen wie Joe Lovano und Pat Metheny – und singt, Fabian Almazan bedient den Bösendorfer-Flügel, Mark Withfield Jr. sitzt hinter dem Schlagzeug, und Sara Serpa ist die zweite Vokalistin in Reihen der Band.

Man muss sich von der Vorstellung befreien, die Stücke des aktuellen Projekts „The Glass Hours“, um die es an diesem Abend hauptsächlich geht, hätten in gesanglicher Hinsicht irgendetwas mit dem Bild zu tun, das man sich üblicherweise von Jazzsängerinnen macht. Hier geht es weniger um Ausdruck, den Transport von Gefühlen, um Stimmvolumen oder um Soul, dafür um so mehr um das Erzeugen von Sounds, um zwei einander zuarbeitende, oft wie ein Saxofonsatz arrangierte Stimmen, die gemeinsam oder getrennt die Themen der Stücke vorstellen, Klangfarben erzeugen und ihre auskomponierten Linien durch das Dickicht des jeweiligen Titels ziehen. Die knackige Spielweise Withfields, die mehr an Vinnie Colaiuta oder Chad Wackerman erinnert und meilenweit entfernt ist vom Spiel eines Swing-Drummers, der behutsame Einsatz eines per Pick Up an den Flügel angekoppelten Synthesizers, das dynamische Spiel der Bandleaderin selbst – das alles ergibt eine Klangkulisse, die irgendwo zwischen den Eckpunkten der extremen Zurückgezogenheit und der fusionartigen Experimentierlust angesiedelt ist. Es gab in den Sechziger und Siebziger Jahren vor allem in der britischen Jazz- und auch Rockszene mal Bands, die mit Wagemut einen ähnlichen, seinerzeit mehr als wagemutigen Ansatz verfolgten und auch weibliche Stimmen dergestalt einsetzten. Damals freilich war das lediglich Beiwerk, hier ist es Alleinstellungsmerkmal.

Bestes Beispiel für die Vielfältigkeit der Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, sind die beiden Stücke „Respect“ und „Chimera“, die zu einer Nummer zusammengezogen werden, in der sich aus einer hymnisch-schwebenden Klangwolke fast unmerklich, getragen von den stimmlichen Sirenen, die Szenerie zuerst fast unmerklich, dann aber doch zusehends immer mehr verdichtet und dann Struktur annimmt. Eigenartig ist, wie wenig verkopft diese Musik trotz durchaus erkennbarer Avangarde-Anleihen doch daherkommt, wie prägnant die Grooves sind und wie nachvollziehbarer die Stimmlinien im Verlauf des Konzert werden, obwohl sie doch zu Beginn des Abends bei „Hello!“ noch eher den Eindruck einer gewissen Fremdartigkeit hinterlassen haben. Ja, Jazz ist ein wahrlich weites Feld. Und dass das Programm des Birdland es in all seinen Facetten und Nuancen quasi vor der Haustüre anbietet, ist ein absoluter Glücksfall. Wo sonst könnte man Bands wie diese hören und somit immer wieder spannendes Neues entdecken?


Maria Baptist Quintet | 12.04.2024
Donaukurier | Karl Leitner
 

Es scheint, als könne Maria Baptist tatsächlich alles. Und zwar alles auf höchstem Niveau. Die Pianistin, Komponistin, Bandleaderin und Dirigentin aus Berlin, die einige Jahre in New York lebte und auf Konzerte in über 20 Ländern weltweit zurückblicken kann, gibt es vor Publikum und auf Tonträgern als Solistin, im Duo, im Trio, im Quartett, mit Big Band und Orchester und – wie im Neuburger Birdland-Jazzclub – als Chefin eines Quintetts mit Jan von Klewitz am Altsaxofon, Richard Maegraith am Tenorsaxofon und an der Bassklarinette, Fabian Timm am Kontrabass und Julian Fau am Schlagzeug.

Ein Konzert bedeute für sie, eine Verbindung zum Publikum einzugehen, sagt sie. „Worauf es letztlich ankommt, ist die Hingabe an den jetzigen Moment. Dann kann Musik etwas bewirken: ein Gefühl des Glücks, des inneren Friedens.“ Hohe Ansprüche, in der Tat, aber Baptist erfüllt sie in allen Belangen, denn sie legt nichts weniger als ein sensationelles Konzert hin, ein Geschenk für den Kopf, die Seele und den Körper jedes einzelnen im Publikum. Im Eingangsbereich sind viele ihrer Tonträger zu erwerben, darunter auch die live in Berlin aufgenommene Doppel-CD mit dem Titel „Essays On Jazz“. Wer sich die mit nach Hause nimmt, hat sich quasi den ganzen Auftritt dauerhaft gesichert, ist deren Inhalt doch sogar bezüglich der Reihung der elf Stücke identisch mit den beiden Sets im Birdland-Gewölbe. Was ausdrücklich nicht bedeutet, dass jene, die sich alle auf eine Laufzeit von um die zehn Minuten erstrecken, an sich identisch wären. Nein, der Improvisation sind Tür und Tor geöffnet, und die ändert sich von Auftritt zu Auftritt, was ja den Charme und Einzigartigkeit von Jazz überhaupt erst ausmacht.

Die beiden Saxofonisten passen ideal zueinander, Kontrabass und Schlagzeug sind ein echtes Dreamteam, Maria Baptist eine Pianistin, der absolut nichts fremd ist, die immer wieder Sachen spielt, bei denen man sich verwundert die Augen reibt, wobei ihr leichter, fließender Ton freilich längst ihr Markenzeichen geworden ist. Ihre Stücke sind Kunstwerke, in die man sich glatt verlieben könnte. Luftig, transparent, nachvollziehbar trotz aller Finessen. Der Klang und die Kraft des John Coltrane Quartetts und die Polyphonie eines Gil Evans habe sie gleichermaßen geprägt, sagte sie einmal, und sie versuche, in ihrer Musik die Balance zwischen diesen beiden Welten zu finden.

Wobei es beim Versuch natürlich nicht bleibt. Balladeske, kammermusikalische Stücke wie „After The Darkness“ und „The Bright And The Dark“, rasante, zupackende Kompositionen wie „Longing“ oder „Running“, dazwischen fast symphonische Überleitungen – die Streubreite ist offensichtlich, und doch fügt sich jeder einzelne Baustein mit den anderen zusammen zu einem großartigen Ganzen, zu einem „Essay On Jazz“, für den es, hätte man es an diesem Abend mit Literatur zu tun, auf jeden Fall – allein schon als Anerkennung für die Schönheit der Kompositionen – einen hochdotierten Preis gegeben hätte. Und für die makellose, elegante, stilvolle und absolut tighte Ausführung gleich noch einen obendrauf. „Ein Erlebnis!“ versprach die Vorankündigung zum Konzert im Programmheft des Birdland-Jazzclubs. Und nachdem der letzte Ton verklungen ist, kann die Antwort nur heißen: „Genau das war es!“


Maria Baptist Quintet | 12.04.2024
Neuburger Rundschau | Reinhard Köchl
 

Das wirklich Schöne am Jazz sind doch immer wieder die Überraschungen. Man betritt mit einer vorher sorgsam zusammengebastelten Erwartungshaltung einen Veranstaltungsort, und zum Glück wird diese in nicht wenigen Fällen schon nach einigen Sekunden nach allen Regeln der Kunst zertrümmert. Wie aktuell im Fall der Pianistin Maria Baptist.

Die 53-jährige Berlinerin galt nach ihren bisherigen Visiten im Neuburger Birdland-Jazzclub eher als kühle Konstrukteurin von komplizierten Noten-Arithmetik. Und dann überrumpelt einen förmlich ein Stück wie „Appartement #3“, eine Reminiszenz an Baptists Zeit in New York; heiß und fettig, massiv und modern swingend, voller Adrenalin und zupackender, innerer Kraft. Das hätte man so nicht erwartet. Was sicherlich an ihrer Expansion vom Solopiano hin zum Quintett liegt: Ein gänzlich anderes Klang-Outfit mit zwei extrem kompetenten und flexiblen Saxofonisten – Dauerpartner Jan von Klewitz am Alto und Richard Maegraith am Tenor und an der Bassklarinette – sowie eine Rhythmussection mit dem Bassisten Fabian Timm und dem kurzfristig eingesprungenen Nürnberger Drummer Julian Fau, die eine Basis erzeugt, auf die sich ein Wolkenkratzer bauen lässt. Auch die anderen Titel, die sie dem Publikum an diesem Abend im einmal mehr gut gefüllten Hofapothekenkeller serviert, bestechen durch tiefgehende Substanz, starke Melodien, extreme Kontraste und multistilistische Elemente. Maria Baptist gelingt es, all dies in jeder Sekunde zu kontrollieren und auf einen schlüssigen Punkt zu bringen.

Im Prinzip sind es durch die Bank Geschichten, die sie selbst erlebt oder ersonnen hat, mitunter auch ältere Kompositionen, die die Berlinerin stetig weiterentwickelt. „After The Darkness“ ist so ein Exempel, bei dem nach dem gleißenden Intro der Pianistin die beiden Saxofonisten in einem fast traumwandlerischen Unisono die dunklen Wolken wegschieben. Oder das kribbelnde „Midnight Rain“ mit einem ganzen Bündel an herausragenden Einzelbeiträgen, aus der aber vor allem Maria Baptists Solo in jeder Hinsicht heraussticht. Es entpuppt sich als grandioses Zeugnis ihres rhapsodischen, frei fließenden Klavierstils, der an Bill Evans oder Keith Jarrett in deren besten Zeiten erinnert. Überhaupt stellt sich nach zwei Stunden voller Kurzweil einmal mehr die Frage, warum diese Frau nach über 30 Jahren unermüdlicher Arbeit als Komponistin, Arrangeurin, Orchesterleiterin oder Pianisten, nach 16 Alben, mehr als 250 herausragenden Kompositionen sowie gar einem symphonischen Werk („Triologie einer Metamorphose“) und Vergleichen mit Legenden wie Maria Schneider, George Gruntz, Jim McNeely oder Carla Bley immer noch als Geheimtipp unter dem Radar läuft.

Allein wie Baptist ihre Combo „auf Linie bringt“, wie sie um die Band im wahrsten Wortsinn ein festes Band schlingt, bei dem nichts, nicht einmal der Aushilfsschlagzeuger, aus dem Gefüge herausbröckelt, das ist eine formidable Meisterleistung, die sich auch in der erlesenen Qualität der subtilen, balladesken und temporeichen Kurzgeschichten widerspiegelt. Im Prinzip spielen Jan von Klewitz, Richard Maegraith, Fabian Timm, Julian Fau und Maria Baptist exakt die Songs ihres aktuellen Albums „Essays On Jazz“ – in derselben Reihenfolge bis zur Zugabe „Goodbye“. Insofern scheint klar, dass es sich trotz aller improvisatorischer Schwerpunkte um Programmmusik handelt; sorgsam geprobt, hinreißend umgesetzt, auf jedes noch so kleine Detail achtend. Ein rares Erlebnis. Wie die Verabschiedung für eine Frau, die zumindest im Birdland längst nicht mehr als Geheimtipp gilt. Aber auch diesen frenetischen Schlussapplaus für eine rein deutsche Band hätte man nicht unbedingt erwarten dürfen.


Lynne Arriale Trio | 06.04.2024
Donaukurier | Karl Leitner
 

Grundsätzlich sind der Freitag und der Samstag die Konzerttage im Birdland Jazzclub in Neuburg. Es sei denn, die Pianistin Lynne Arriale aus Jacksonville, Florida, kündigt sich an. Nachdem das Samstagskonzert im Nu ausverkauft ist, gastiert sie auch noch ausnahmsweise am Sonntag. Fast überf­lüssig zu erwähnen, das es auch für den Zusatztermin schnell keine Tickets mehr gibt.

Woran liegt das? Zum einen daran, dass ihre Konzerte in Neuburg schon immer Garanten für kraftvollen und gleichzeitig eleganten Piano-Jazz waren, was sich na­türlich herumgesprochen hat, zum zwei­ten an einer ganzen Reihe exzellenter Platteneinspielungen, mit der sie auch in den Medien für Aufsehen sorgt, zum drit­ten daran, dass man für ihre Musik kein Jazz-Abitur benötigt und schließlich dar­an, dass jedes ihrer Stücke akribisch aus­gearbeitet ist, genau die Balance fin­det zwischen Wiedererkennungswert und ex­zellenter solistischer Arbeit, wobei sie – was sie abhebt von den Kompositionen vieler ihrer Kollegen – zwar über keinen Text verfügen, sehr wohl aber über eine Botschaft.

Im Grunde ist sie nicht nur eine Pianist­in – und Professorin für Jazz­piano an der University Of North Flori­da – sondern auch die Sonderform einer Singer/Song­writerin, bei der das Piano den Gesangs­part übernimmt. Die Stücke ihres neuen Albums „Being Human“ tra­gen Titel wie „Passion“, das Greta Thun­berg gewidmet ist, „Courage“ und „Heart“, die sich mit dem Thema Ukrai­ne beschäftigen, oder „Persistance“ über die afghanische Frau­enrechtlerin Faira Ghafari. Sobald man das weiß, stellt sich beim Zuhören fast zwangsläufig das Phänomen ein, dass man die jeweils zu­grunde liegende The­matik auch ohne Umweg über die Spra­che hört. „Soul“ ist soulig, „Joy“ ist vol­ler Lebensfreude, „Curiosity“ macht allein wegen seines Ablaufs neugierig.

Immer wieder holt sie Stücke aus frü­heren Alben aus der Versenkung, etwa „The Lights Are Always On“, aus der gleichnamigen und zugleich politischst­en CD, in dem die stillen Helden der Pandemie gewürdigt werden, ab und zu covert sie auch, etwa liebevoll „Let It Be“ von den Beatles oder zornig „Some­times I Feel Like A Motherless Child“, das noch aus der Sklavenzeit stammt, aber nichts an Brisanz verloren hat. Nicht die einzi­gen, aber vielleicht die eindringlichsten Momente des Abends sind die, in denen Lynne Arriale es schafft, eine besonders intensive Verbin­dung herzustellen zwi­schen sich und ihrem Publikum, das für die technische Brillanz und die Passge­nauigkeit der Soli Szenenapplaus spen­det, aber auch gleichzeitig andächtig bei der Sache ist, weil es die Botschaft ver­standen hat, ja, vielleicht nur wegen ihr gekommen ist.

Lynne Arriale bietet nicht nur tolle Mu­sik an diesem – dem ersten – Abend im Birdland, sondern dem Personal, für das sie ihre Stücke geschrieben hat, auch ein Forum. Im Grunde hat sie durchaus et­was von einer Aktivistin an sich, einer, die sich zwar der in diesem Umfeld ver­gleichsweise eher unüblichen Aus­drucksform der Instrumentalmusik be­dient, dies aber musikalisch absolut sou­verän und inhaltlich jederzeit glaubwür­dig. Als sie sich anlässlich des Stücks „Sounds Of America“ schließlich auch noch für die „Zustände“ in ihrem Land entschuldigt, weiß man sofort, was und vor allem wen sie damit meint. Joe Bi­den ist es nicht.