Neuburger Rundschau | Peter Abspacher
Im Gänsemarsch zogen sie auf die Bühne, die vier Musiker des International Hot Jazz Quartet – gut sitzender Anzug, blütenweißes Hemd und die Krawatten perfekt gebunden. Für die Zuhörer im voll besetzten Birdland-Keller ist damit klar: Das hier ist eine seriöse Veranstaltung, Eleganz und Können sind zu erwarten, nichts wirklich Wildes und Exaltiertes. Die Erwartung wird mehr als eingelöst: Die vier Jazzer bieten Entertainment auf oberstem Niveau, sie entfalten den noch immer anhaltenden Zauber teils über 100 Jahre „alter“ Dixie- und Swing-Klassiker auf eine frische, lockere Art, aber im Detail hoch konzentriert.
Wir wollen uns einfach gemeinsam einen schönen Abend machen, so sagt es der Klarinettist und Saxofonist Engelbert Wrobel gleich zu Beginn. Ein scheinbar simples Motto, aber eben nicht so einfach umzusetzen. Um den New-Orleans-Sound aus den 1920er und 1930 Jahren oder den Harlem-Swing mit vielen „Schlagern“ von Louis Armstrong oder Roy Eldrige und manchmal auch von George Gershwin zum immer neuen, unverwüstlichen Jazz-Leben zu erwecken, ist echte Kunst nötig, technisch wie musikalisch.
Und genau das bieten die vier Herren, Engelbert Wrobel auf dem Saxofon und mit der Klarinette, der Trompeter Duke Heitger, Paolo Alderighi auf dem Bösendorfer-Flügel und Bernard Flegar am Schlagzeug. Und zwar, was durchaus nicht bei jeder Quartett-Besetzung selbstverständlich ist, absolut auf Augenhöhe. Da gibt es keinen wirklichen Leader. Diese Qualität des Zusammenspiels wird schon im allerersten Stück beispielhaft zelebriert.
Im Song „Strike up the band“ von G. Gershwin stellen die vier Musiker ihre Soli mit technischer Bravour und musikalischer Grandezza locker und fast flockig in den Raum. So ist die ganze Combo im Handumdrehen auf Betriebstemperatur. Die Zuhörer spüren, wie der Hase an diesem Abend läuft, und sie freuen sich darauf. Immer wieder gibt es Kostproben dieser elegant-frischen Interpretationen, mit perfekt groovenden Unisono-Miniaturen von Klarinette, Trompete und Klavier, mit einem dezent-präsenten Schlagzeuger im Hintergrund.
Die Bläser und der Mann am Flügel brillieren – mit einem Lächeln auch wenn es ziemlich anspruchsvoll wird – in ihren Soloeinlagen. Und der Schlagzeuger ist plötzlich mit einem Klasseauftritt zur Stelle, ehe er wieder einen Schritt zurücktritt und mit lockerem Händchen den Grund-Sound in Rhythmus und Dynamik zum Besten gibt. So lässt sich zum Beispiel der Song „Rachel`s dreams“, den Benny Goodman seiner Tochter widmete, in allen Feinheiten genießen. Auch hier: Volle Konzentration bei aller Leichtigkeit des Spielens. Denn man muss schon ziemlich gut, sagen wir traumhaft, mit seinem Instrument umgehen können, um dieses Stück so zu bringen.
Eine Herausforderung spezieller Art wurden die Gesangspassagen in einigen Songs von Glenn Miller oder Louis Armstrong. Der Sänger und Trompeter Duke Heitger hatte noch zwei Tage vor dem Birdland-Konzert überhaupt keine Stimme, sie war einfach weg und krächzte mehr als dass sie geklungen hätte. Ganz auf der Höhe war Heitger auch im Birdland noch nicht, aber auch hier zeigte sich die musikalische Klugheit dieses Ensembles. Heitger konnte nicht in full power gehen, er ging mit spürbarer Vorsicht ans Werk, glich das aber mit Intensität im Ausdruck eindrucksvoll aus. Bei der Zugabe „Oh when the saints …“ war Heitger anzumerken, dass er nicht mehr lange hätte weitersingen können. Aber das spielte keine Rolle, dieser Jazz-Schlager wurde in der frechen, originellen Version dieser Band ohnehin zu einem Kabinettstück.
Donaukurier | Karl Leitner
Old Time Jazz, Swing und Dixieland haben derzeit Konjunktur. Große Ensembles wie die Dutch Swing College Band oder die Barrelhouse Jazzband feiern runde Jubiläen, sogar an sich jazzferne Künstler wie ganz aktuell der Bluessänger Taj Mahal nehmen sich des frühen Jazz aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an, im Ingolstädter Audi Forum geben sie sich quasi die Klinke in die Hand und auch im Neuburger Birdland Jazzclub stehen in letzter Zeit immer wieder gehäuft Konzerte unter dem Motto „Traditional“.
Es gibt ein erstaunlich großes Publikum für diese frühe Form des Jazz, wie das Konzert des International Hot Jazz Quartets beweist. Von Anfang an ist klar, was für die nächsten zwei Stunden geplant ist. Zumindest von Seiten des Bandleaders, Klarinettisten und Saxofonisten Engelbert Wrobel. „Wir manchen uns ganz einfach einen schönen Abend!“ sagt er nach der ersten Nummer, die bezeichnenderweise den Titel „Havin‘ A Ball“ trägt, und leistet mit seinen launischen Ansagen anschließend einen entscheidenden Beitrag dazu, dass es ein solcher auch tatsächlich wird. Und weil die Band zudem auch in musikalischer Hinsicht einen wirklich guten Tag erwischt hat, springt das Publikum, das nach diesem spritzigen Feuerwerk der guten Laune am Ende zwei Zugaben fordern wird, auch sofort auf das Quartett an.
Viele vergleichbare Bands überzeugen nicht nur durch ihren professionellen und souveränen Umgang mit dem musikalischen Erbe, sondern auch durch überlegt durchorganisierte Shows, durch über die Jahre erprobte und für gut befundene Abläufe und durch eine Setlist, die auf Bekanntes setzt und Standards auf eher behutsame Weise neu interpretiert. Das alles gilt auch für dieses Quartett, dem neben Wrobel der Trompeter und Sänger Duke Heitger, der Pianist Paulo Alderighi und der Schlagzeuger Bernard Flegar angehören, wobei dieser Abend aber dann doch ein ganz besonderer wird. Vor allem im Mittelteil des Konzerts nämlich graben die Musiker das aus, was man als „den letzten Tick“ bezeichnen könnte, was den Unterschied zu vielen ihrer Kollegen ausmacht. Diese entscheidende Phase beginnt mit der sagenhaften Improvisation Paulo Alderighi’s über Jerome Kern’s „Old Man River“, in der er seine enorme Vielseitigkeit zur Schau stellt. Sie umfasst Sidney Bechet’s „Si Tu Vois Ma Mère“, Louis Armstrong’s „Swing That Music“ und den „Mississippi Rag“ von 1897, der ältesten Nummer des Abends und der ersten des Jazz überhaupt, die je auf Notenpapier erschien. „Alle unsere Stücke sind alt“, erklärt Wrobel ganz lapidar, „aber das ist so alt, das geht schon in Richtung Mozart“. Worauf hin er mit dem Original Lester Young-Solo über Gershwin’s „Oh, Lady Be Good“ sein Meisterstück abliefert.
Nun gut, „When The Saints Go Marching In“ in der ersten Zugabe mag nicht sonderlich originell sein, aber trotzdem ist der Abend einer, an dem es einfach „passt“, an dem der nicht messbare aber dafür fühlbare Unterschied zwischen „exakt“ und „tight“ zu Tage tritt. Man kann mitunter nur unzureichend erklären, warum einen ein Konzert über weite Strecken so im Innersten packt. Aber man kann es spüren. An diesem Abend tut man genau dies besonders intensiv.
Donaukurier | Karl Leitner
Die Barrelhouse Jazzband zu Gast im Audi Forum? Ja, und das nicht zum ersten Mal, was seine seine guten Gründe hat. Zum einen ist das 1953 in Frankfurt/Main gegründete Septett die dienstälteste und zugleich erfolgreichste Band Deutschlands, was Traditional Jazz, New Orleans-Jazz und Swing anbelangt, zum anderen spielt die Band „ihre“ Musik bei jedem Auftritt mit einer erstaunlichen Frische, so dass man diesen Stücken ihr Alter – wüsste man es nicht besser – gar nicht anmerken würde. So klingen hundert Jahre Jazzgeschichte, nachdem sie behutsam, liebevoll und von Meisterhand abgestaubt wurden.
Barrel. – Der Begriff taucht immer dann auf, wenn es um Erdölfördermengen geht, ist aber ungleich geschichtsträchtiger. Barrels waren auch die Fässer, aus denen einst in den Kneipen für Afroamerikaner im Südosten der USA Alkohol ausgeschenkt wurde. Das geschah in den „Barrelhouses“, berüchtigten Spelunken, in denen es ziemlich wild herging. Über die Barrelhouse-Pianisten und ihre Musik, eine Art Vorläufer es Boogie Woogie, fand er Verbreitung, wurde zu einer frühen Sparte des Jazz, fand später Eingang in die vornehmen Ballrooms der Metropolen und wurde schließlich auch Namensgeber für die Band, die da an diesem Abend im Rahmen ihrer Jubiläums-Tour zum 70. Geburtstag im Audi Forum zu Gast ist.
Immer wieder wird die Bühne in ein schwülstiges Rot getaucht, was – ob Zufall oder nicht – ganz gut zum nicht ganz einwandfreien Ruf der einstigen Barrelhouses passt und natürlich auch zu den altehrwürdigen Stücken des Abends. Reimer von Essen (Klarinette, Moderation), Frank Selten (Saxophone), Horst Schwarz, Posaune, Trompete), Christof Sänger (Klavier), Roma Klöckner (Banjo, Gitarre), Michael Ehret (Schlagzeug) und Lindy Huppertsberg (Kontrabass), die Herren stilecht ausgestattet mit dunklem Anzug und blitzblank gewienertem Schuhwerk, kriegen den Spagat zwischen dem historischen Vergnügungsviertel der Crescent City und dem modernen, vergleichsweise doch eher nüchternen Ambiente des Audi Forums absolut überzeugend hin. Wer für diese Musik schwärmt – und das sind, dem erfreulichen Zuschauerzuspruch nach zu urteilen, nicht wenige – kann an diesem Abend in der Tat ein Vollbad nehmen. Mit Ella Fitzgerald, Duke Ellington, Fats Waller, King Oliver und Jelly Roll Morton sowie „The Muscrat Rumble“, „Caravan“ und dem „Royal Garden Blues“ ist das Programm gespickt mit großen Namen und legendären Kompositionen, in dem einzig Paul McCartney’s „Let It Be“ wie ein Fremdkörper wirkt.
Auf den Gast des Abends, den Sopransaxofonisten Olivier Franc aus Paris trifft das hingegen absolut nicht zu. Wenn er den Schwerpunkt auf Sidney Bechet, dessen „Petite Fleur“ und von ihm früh adaptierte Klassiker wie Gershwin’s „Summertime“ legt, geht förmlich ein Ruck durch die ganze Mannschaft, die Intensität der Performance erreicht ein neues Level und es stellen sich Momente ein, in denen die Band tatsächlich – recht gut passend zum „Barrel“ im Namen – ein Fass aufmacht.
Neuburger Rundschau | Reinhard Köchl
Schon komisch: Alles klingt so einfach, so nachvollziehbar. Keineswegs so, als hätten die Musiker dort oben schon zehntausende von Probenstunden, von Selbstzweifeln und Rückschlägen hinter sich. Dabei passt das, was sie spielen, tatsächlich wieder mal in jede Klischeeschublade: Vertrackte, krumme Taktarten, abrupte Tempowechsel, halsbrecherische Changes, kurzum alles, warum Menschen den Jazz gerne als kompliziert und verkopft in die Schmuddelecke stellen. Doch Johannes Enders und sein Quartett wollen in erster Linie Spaß – und transportieren dies auch im Laufe eines durchaus bemerkenswerten Abends im Neuburger Birdland-Jazzclub. Denn Spaß ist eine der wesentlichen Säulen, um anspruchsvolle Musik erst vermittelbar zu machen. Amerikaner nennen das „sophisticated“.
Also präsentiert sich Enders, dieser freundliche Riese mit dem Tenorsaxofon, nicht wie ein neunmalkluger Zauberkünstler. Er nutzt seine phänomenalen Fähigkeiten, die ihn zu einem der wichtigsten Vertreter dieses Instrumentes weltweit erhoben haben, dazu, um Geschichten zu erzählen. Jeder kann ihnen folgen, sie nachvollziehen. Und man muss sich nicht unbedingt mit den Geheimnissen des Tenorsaxofons vertraut sein, um zu fühlen, dass es nichts gibt, was der Hüne aus dem oberbayerischen Weilheim nicht kann. Früher gab Johannes Enders meist den ekstatischen Hotblower, heute kann er sein Spiel auf faszinierende Weise variieren. Mal schwelgt er in rhapsodischen Melodiebögen, lässt warme, atmende Linien ins Thema fließen, haucht luftige Balladenträume in Moll ins Gewölbe oder brilliert mit weiten Intervallen und abenteuerlichen Akkordunterlegungen. Nichts geschieht dabei zum Selbstzweck, alles dient dem gemeinsamen musikalischen Ausdruck. Dass der 55-Jährige dabei die gesamte Geschichte dieses Instrumentes von John Coltrane über Sonny Rollins bis hin zu Wayne Shorter umreißt, muss man nicht unbedingt wissen. Aber kann es irgendwie spüren.
Und dann ist da noch das Thema „Spaß“. Enders huldigt Vorbildern wie dem großen, kürzlich verstorbenen Tenoristen Pharoah Sanders oder geschätzten Kollegen wie dem Pianisten Oliver Kent mit witzigen Umkehrungen und Umdeutungen. Sein soulig-bluesiges „The Creator Has A Plan B“ adaptiert Sandersʼ bekanntesten „Master Plan“-Song, während Kents munter boppende, aber nie ausgelassene Hommage den Titel „Sir Oliver“ trägt. Es sind keine Licks, die er absondert, sondern Statements von immenser Körperlichkeit. Fast immer spannt der Saxofonist mehrere Einflüsse und Verarbeitungen zusammen und formt daraus etwas Eigenes, getragen von seinem unverwechselbaren, leicht heiseren, noch im experimentellsten Improvisationsteil oder Solo der absoluten musikalischen Schönheit verpflichteten Ton. Die wunderbar aufeinander eingespielte, internationale Band um den phänomenalen Schweizer Pianisten Jean-Paul Brodbeck, dem kunstvolle gedrechselte Basslinien entwerfenden Niederländer Joris Teepe und dem flirrende Rhythmen übereinander schichtenden amerikanischen Drummer Howard Curtis erlangt eine eindringliche erzählerische Kraft, die jeden Kopf erreicht und direkt ins Herz weitergeht. Das gesamte Konzert entwickelt einen faszinierenden kaleidoskopischen Charme, weil es sich nicht krampfhaft an ein vermeintliches Erfolgsrezept klammert, sondern aus dem Augenblick heraus entsteht, dem Zusammenspiel der Musiker und ihrem Urvertrauen zueinander.
Das letzte Stück des Abends trägt den Titel „No War“ und braucht keine Erklärung. Brodbecks melancholisches Intro assoziiert Bilder von spielenden Kindern, grünen Wiesen, Sonnenuntergängen, bis Curtis am Schlagzeug drohende Marschmusik durchklingen lässt. Aber der Himmel mag sich nicht verdunkeln, die Musiker wehren die Szenarien mit all ihrer virtuosen Kraft ab, entwerfen Alternativen für den Untergang. Über all dem wacht Johannes Endersʼ Tenorsaxofon wie ein Mauersegler, der dafür sorgt, dass dieses Idyll keine Risse bekommt. Schwieriges Thema, höchst anspruchsvolles Handwerk, einfache, aber wirkungsvolle Lösung. Und frenetischer Beifall vom wie gebannt lauschenden Publikum.
Donaukurier | Karl Leitner
Wenn es darum geht, sich vor Musikern zu verbeugen, die ihn maßgeblich beeinflusst haben, verfügt der Tenorsaxofonist Johannes Enders über Erfahrung. Zu Beginn seiner Kar-riere standen John Coltrane und Michael Brecker ganz oben auf seiner Liste, sobald er jedoch Gefahr lief, sich von ihnen zu sehr dominieren zu lassen, suchte er Abstand nach der Devise: Huldigungen sind schön und gut, aber bitte in eigener Sprache, mit eigenen Noten und vor allem eigener Note.
Die hat er längst gefunden, wie man beim Konzert im Birdland Jazzclub, das er zusammen mit seinem international besetzten Quartett aus dem Pianisten Jean-Paul Brodbeck aus Zürich, dem Kontrabassisten Joris Teepe aus Amsterdam und dem in Graz lebenden Schlagzeuger Howard Curtis aus Washington D.C. ablesen kann. Sein geradliniger Stil passt hervorragend zu dem erquicklichen Tiefgang, mit dem er sich wohltuend absetzt von all denen unter seinen Kollegen, für die vor allem Geschwindigkeit und Akrobatik im Vordergrund stehen. Was selbstredend überhaupt nichts aussagen soll über seine technische Brillanz. Über die verfügt er und die ist auch vonnöten, beschäftigt er sich doch mit seinem Album „Sweet Freedom – A Tribute To Sonny Rollins“ und auch in der ersten Halbzeit des Konzerts mit einem der ganz Großen, mit Sonny Rollins, mit dessen „Mostly Sonny“, mit „With A Little Help Of The Sun“ und dem aus der Verschmelzung zweier Standards – Harry Warren und Thelonious Monk lassen grüßen – neu entstandenen „There Will Always Be Another Mystery“.
Und weil das so überaus gut gelingt, die Hochachtung vor dem legendären Urahn spürbar aber gleichzeitig deutlich die eigene Note erkennbar ist, widmet sich die Band im späteren Verlauf mit „Black Nile“ auch noch dem kürzlich verstorbenen Wayne Shorter, an dessen Improvisationsstil der von Enders ab und zu erinnert, mit „The Creator Has A Plan B“ seines Tenor-Kollegen Pharoah Sanders, dessen Tod ebenfalls erst ein halbes Jahr zurück liegt, und schließlich mit „Sir Oliver“ des Pianisten Oliver Kent. Und bevor es in die vom Publikum heftig eingeforderte Zugabe geht, bringt er die noch nicht veröffentlichte Komposition „No War“, mit der er auf seine Art Stellung nimmt zu den aktuellen politischen Ereignissen.
Das ist der derzeitige Stand der Dinge bei Johannes Enders. Nachdem er sich an seinem selbst gewählten Platz im deutschen Jazz dermaßen wohlzufühlen scheint, kann es gut sein, dass er sich in Kombination mit seiner Lehrtätigkeit an der Hochschule für Musik und Theater in Leipzig darauf längerfristig häuslich niederlässt. Andererseits war der Mann immer hungrig nach Neuem. Frühe Kontakte zu den wie er im oberbayerischen Weilheim beheimateten „The Notwist“, Flirts mit dem Rocklager und dem Bereich des Electojazz und bei Bedarf das Entwerfen elektronischer Effekte und der Umstieg aufs Keyboard gehören nämlich ebenso zu seiner Biografie wie die Beschäftigung mit dem Modern Jazz an diesem Abend im Birdland. – Bei aller Verlässlichkeit, all der Glaubwürdigkeit und all der Souveränität, die den Abend kennzeichnen, bleibt es also immer spannend mit ihm. Womit ja ein wesentliches und generelles Kriterium des Jazz schon mal erfüllt wäre.
Neuburger Rundschau | Dr. Tobias Böcker
Im besten Falle ist das Duo ein Zwiegespräch auf Augenhöhe, wohl balanciert in je aktiver und zuhörender Rolle. Wobei zweiterer häufig fast größere Bedeutung zukommt als der jeweils führenden Stimme. So trug denn auch bereits das erste Stück des Abends den Titel „Das helle Hören“.
Henning Sieverts am Bass und Philipp Schiepek an der Gitarre hielten das Aufmerksamkeitslevel stets auf konzentrierter Höhe, umkreisten gemeinsam die Ideen ihrer Kompositionen und erzeugten gerade durch die Behutsamkeit des Zusammenspiels, den Verzicht auf jedwede vordergründige Profilierung, geschickte Reduktion der Mittel und bewussten Einsatz von Stille jene Spannung und Reibung, die eine kammermusikalische Darbietung auch im Jazz so spannend machen.
Nicht wenig trugen die ausgetüftelten Kompositionen bei, der „Blues for Charlie Haden“ etwa, der sich aus den spielbaren Notenwerten des Namens jenes großartigen Bassisten zusammensetzt, der eine ganze Ära seines Instruments prägte. Apropos: Oft wird er ja viel zu wenig beachtet, der größte Bruder in der Familie der Streichinstrumente, auch im Jazz, wo er eher gezupft als – sehr selten – gestrichen wird. Henning Sieverts, mit seinen inzwischen weit über dreißig Bühnenjahren ein ausgesprochener Kreativitäts- und Stabilisierungsfaktor der deutschen Jazzszene, vereint Finesse, Understatement und Klanggefühl zu herausragender Klasse. Seine Kompositionen sind so durchdacht wie erfinderisch, stets ein wenig hintersinnig und immer wieder mit konkretem Hintergrund, „Le Carrée“ z. B., das unter der Sonne Südfrankreichs entstand, oder „Just friendly“, das sich auf einen bekannten Jazzstandard bezieht. „My two five one and only“ präsentiert den gelernten Cellisten Sieverts auch am gestrichenen Kontrabass als wahren Könner.
Der fast eine ganze Generation jüngere Philipp Schiepek trägt seinerseits einige Kompositionen bei. Deren lakonische Titel wie z.B. „Flashlight“ oder „Waltz“ verraten nicht auf den ersten Blick, wie viel Fantasie und Anregung in ihnen steckt, mal mit funky Groove, mal mit nachdenklichen Zwischentönen. Schiepeks Gitarrensound orientiert sich nah an der Akustischen, sein Spiel ist eher filigran als laut, eher zurückhaltend als allzu muskulös.
Beide, Sieverts am Bass und Schiepek an der Gitarre, verstehen sich hervorragend auf jene behutsamen Zwischentöne, die den Dialog so interessant machen, viel ergiebiger als apodiktisch markante Statements. Das gilt nicht zuletzt für den „last minute Blues“, der beispielhaft zeigt, wie die beiden Musiker dieses Duos einander zuzuhören bereit und in der Lage sind. Fallende Stecknadel ist laut dagegen. Das Publikum im Birdland folgte schier atemlos.
Neuburger Rundschau | Thomas Eder
František Uhlíř hat diesen einen der clubeigenen Kontrabässe organisiert, auf dem gefühlt schon die halbe Jazzbassistenwelt ihr Konzert in Neuburg bestritten hat und der immer wieder hochgelobt wird. Und das obwohl – wer könnte das nicht verstehen – jeder am liebsten auf dem eigenen Instrument spielt. Der Fachmann für den dicken Viersaiter brachte selbstverständlich seinen eigenen Bass aus Prag mit. Und wenn „Franta“ auf Tour geht, dann nicht ohne seinen Partner und Schlagzeuger Jaromír Helešic. Anscheinend will keiner ohne den anderen. Und jedesmal erweitert Uhlir sein Zweierteam mit ein oder zwei anderen Musikern. Unter anderem hießen die Formationen PVC oder MUH Trio und diesmal eben The KUH Trio, was zumindest im Deutschen alles etwas amüsant klingt. KUH sind in diesem Fall aber ganz einfach die Anfangsbuchstaben der Musiker.
Letzten Samstag hatte das eingespielte Gespann aus Tschechien den fabelhaften österreichischen Gitarristen Edi Köhldorfer mit an Bord, der sichtlich Spaß an guter Musik hat und verschiedenste Musik- und Gitarren-Stile lebt. Klar stand der Jazz im Vordergrund, aber mit funkigen Elementen oder poppig anmutenden Akkordsequenzen brachte der spielfreudige Gitarrist zusätzlich Farbe ins Spiel. Man hörte gern hin wenn Edis Linke in rasantem Tempo über das Griffbrett tobte oder er eine gefühlvolles Intro im Stil von Martin Taylor zelebrierte. Der in Wien lebende Steirer trug in etwa die Hälfte der Kompositionen zu diesem Abend bei. Zum Beispiel den originellen Titel „KUH Monk“ in Anlehnung an Thelonious Monks berühmtes „Blue Monk“ oder „Almost Bill“ im Geiste von Bill Evans. Auch die drei Bossas und Sambas waren seine Idee. Köhldorfer ist nicht nur ein ausgezeichneter Gitarrenspieler sondern auch ein bemerkenswerter Komponist. Gleiches gilt für František „The Legend“ Uhlíř, der die andere Hälfte der Stücke mit den schwieriger zu verstehenden Harmonien geschrieben hat.
Uhlíř gehört zu den weltweiten Top-Adressen der Bassistenfamilie. Das liegt erstens an dem atemberaubenden Tempo, mit dem er mit seinem Kontrabass kommuniziert. Zweitens an der für Bassisten ungewöhnlichen Tongenauigkeit, an der sich manche Kollegen gerne ein Beispiel nehmen dürfen. Und drittens an der Art, wie er sein Instrument zur Melodieführung einsetzt und dabei wie ein Derwisch mit dem Bogen hantiert oder in atemberaubender Geschwindigkeit zupfend seine Leidenschaft zum Ausdruck bringt. Man muss es erlebt haben. Seine Kompositionen heißen „Big Mouth“, was wohl Großmaul bedeuten soll oder „You are never at home“, bewusst gefolgt von „Maybe later“. Ein bisschen Wortwitz gehört bei dieser Band dazu.
Und dann wäre da noch der drummende Kitt der Formation. Bei Helešic fühlt man, dass er schon lange ein scheinbar unzertrennliches Team mit dem Bassisten bildet. „Jaro“ braucht kein großes Kit um sein Können zu beweisen, keine zusätzlichen Becken und keinen anderen Schnickschnack. Er begleitet immer dezent ohne defensiv zu sein, findet in jedem Moment die richtige Antwort auf seine Mitstreiter und begeistert mit jedem Schlag. Wer ihn längere Zeit beobachtet versteht irgendwann, dass er nicht irgendein rhythmischer Untermaler, sondern der gewiefte Dekorateur der Show ist.
Edis, Frankas und Jaros lässig swingenden Arrangements versprühten immer aufs Neue gute Laune und der Wiener Schmäh und die Prager Freundlichkeit in den Ansagen wärmten die Herzen. Es gibt Konzerte, von denen geht man fröhlicher nach Hause als von anderen. Das war so eines.
Donaukurier | Karl Leitner
Was macht eine Kuh im Birdland? Und wie bewältigte sie den Weg die lange Treppe hinunter ins Gewölbe und auf die dortige Bühne? Eine mysteriöse Angelegenheit? Nein, gar nicht. Schließlich spielen im Kuh Trio, das für diesen Abend angekündigt ist, der Gitarrist Edi Köhldorfer, der Kontrabassist František Uhlíř und der Schlagzeuger Jaromir Helešic mit, und die Initialen der drei Familiennamen ergeben nun mal „Kuh“. Früher war statt eines Gitarristen übrigens der Pianist Roberto Magris mit an Bord, weswegen man sich damals auch – wie passend – „Muh Trio“ nannte.
Um im Bild zu bleiben: Die Kuh an diesem hochklassigen Abend im Birdland ist weder braun noch schwarz- weiß gescheckt und schon gar nicht lila, sondern überaus farbenfroh. Zu Beginn kommen einem – vom Klangbild, weniger von der Spielweise der Beteiligten her – Eberhard Weber’s für ECM eingespielte „Colours Of Chloë“ in den Sinn, was vor allem an Uhlíř’s sensationellem Bass-Sound liegt. Er bedient sich zweier Pick Ups und erzeugt damit einen wie in Fels gemeißelten, markanten, schlanken, niemals wabernden Ton, der geradezu einlädt zur Übernahme der wunderschönen Themen und Melodielinien von Stücken aus eigener Feder wie „You Are Never At Home“, „Maybe Later“ oder „From Heart To Heart“. Diese Aufgabe fiele normalerweise dem Gitarristen zu, aber das österreichisch-tschechische Trio hat im Grunde zwei Leader, die sich wunderbar ergänzen aber auch jeder für sich eine eigene Linie verfolgen.
Uhlíř’s „Big Mouth“ (O-Ton: „Unser einziges politisches Stück. Aber es geht darin nicht nur um Politiker mit seltsamen Frisuren.“) und sein „Javor“ (zu deutsch: „Arber“) über den höchsten Gipfel des Böhmerwaldes, stehen einträchtig neben Köhldorfer’s „Game III“ und das für seine Partner aus Böhmen geschriebene „O Samba Boemio“ sowie „Frantology“ speziell für den Mann am Bass und seinen eleganten Sound. Dezent aber unerbittlich ziehen die drei an einem gemeinsamen Strang. Keiner scheint je an seine Grenzen zu gehen, feinsinnige Sensibilität und vornehme Zurückhaltung prägen den Abend, die Stücke umweht die Aura des Edlen, in der Vordergründigkeit und Effekthascherei keinen Platz haben. Einzig Köhldorfer’s „Old Souls“, eine wunderbare Ballade und gleichzeitig das Titelstück des brandneuen Albums des Trios, hätte in der Liveversion vielleicht auch ganz gut auf eine von John Scofield’s Platten der „Loud Jazz“-Ära gepasst. Wohlgemerkt auch hier nur wegen der klanglichen Stimmung, weniger wegen der Spielweise.
In der Tat haben sich unter dem auf den ersten Blick etwas sonderbaren Bandnamen hier drei Individualisten gefunden, die perfekt harmonieren, zwischen denen es ganz einfach „passt“. Jeder bringt eigene Kompositionen, eigene Ideen und seine eigene Stilistik ein, die aber nur durch die Sensibilität der Beteiligten und deren Sinn für das große Ganze zu diesem außergewöhnlichen Ergebnis führen. Was wiederum deutlich macht, dass man gerade Regionen, die man hierzulande normalerweise weniger mit Mainstream- oder Modern Jazz in Verbindung bringt, tunlichst nicht aus den Augen lassen sollte. Ein Hoch auf die Kuh!
Donaukurier | Karl Leitner
Ein weiteres Konzert der Birdland-Reihe „Art Of Piano“ ist angekündigt. Da spitzt man nach den überaus positiven Erfahrungen der letzten Veranstaltungen unter dieser Überschrift automatisch ganz besonders die Ohren. Völlig zu recht, denn mit Rita Marcotulli aus Rom, dem Kontrabassisten Michel Benita aus Paris und dem Schlagzeuger, Perkussionisten und Sänger aus Tijuana, Mexiko, ist ein Trio im Gewölbe unter der einstigen Hofapotheke zu Gast, das zum anscheinend unerschöpflichen Thema „Piano Trio“ erstaunliche Neuigkeiten beizutragen hat.
Zuerst stimmt die Combo sich mit „Rappresenta“ ein auf einen gemeinsamen Groove, verständigt sich auf eine Art Flow, wird abgelöst von „Yin And Yang“ als symbolträchtiger Formel für all die Vielfalt, den schier unerschöpflichen Variantenreichtum, der danach folgt. Die lyrische Sensibilität der von wunderbaren Bassfiguren dominierten Ballade „Nightfalls“, die Vertonung eines Briefes von Frida Kahlo mit dem Titel „Azul“ mit spanischem Text – Israel Varela ist in seinem Nebenjob als Sänger absolut überzeugend – oder die dem schwedischen Pianisten Bobo Stenson gewidmete akustische Träumerei noch vor der Pause sind der eine Pol. Der andere vermittelt die durchaus auch vorhandene Liebe zur Rasanz, die Leidenschaft für dramatische Momente, in denen Varela mehr zum Perkussionisten wird, statt der Besen oder Stöcke die Hände einsetzt und als Alternative zu seinem ansonsten eher sparsamen Spiel anbietet.
Was immer das Trio auch tut, die Eigenkompositionen, die vor allem von Marcotulli stammen, sind über jeden Zweifel erhaben. Die Eckdaten liegen jeweils fest, Freiräume für Soli wurden vorab eingeplant, die improvisierten Abschnitte sind nicht zu lang, nichts läuft aus dem Ruder, verselbstständigt sich und bleibt doch in jedem Augenblick spannend. Die transparenten Arrangements sorgen für Nachvollziehbarkeit, auch wenn es mitunter durchaus komplex zugeht, und ab und zu werden aus an sich eher dem Modern Jazz zuzurechnenden Stücken fast Songs in herkömmlichem Sinne. Titel wie „Indaco“, „Elements“, Escape“ oder „Heliopolis“ mit ihren hinreißenden Themen und ihrer rhythmischen Dichte, die zu ständigen Variationen geradezu einladen und im Kopf des Zuhörers im Hintergrund immer mitlaufen, auch wenn sich die Band immer wieder mit voller Absicht von ihnen entfernt, sind exemplarisch für das Vorhaben des Trios, Anspruch und Lust zu verbinden.
Und am Ende tritt sogar der überaus seltene Fall ein, dass das Publikum zum Mitsingen aufgefordert wird, ohne dass dies anbiedernd oder peinlich wirkt. Ja, die einfachen, aber kraftvollen, zu rein harmonischen Zwecken eingeforderten Backing Vocals machen sich sogar ausnehmend gut. – „Eine neue, faszinierende Facette im Neuburger Piano-Spektrum“ sei zu erwarten, hatte es vorab im Programmheft geheißen. Ja, diese Erwartung erfüllt sich in jeder Hinsicht. Nach dem umjubelten Konzert Rita Marcotulli’s zusammen mit Luciano Biondini im Jahre 2020, von dem Ohrenzeugen noch heute schwärmen, nun also wieder einer dieser denkwürdigen Abende mit der großartigen Pianistin, Komponistin und Arrangeurin aus Rom.
Neuburger Rundschau | Reinhard Köchl
Es klingt so selbstverständlich: Das Rita Marcotulli-Trio gastiert im Neuburger Birdland. Dabei galt eine Frau am Piano lange Zeit als exotische Randerscheinung, als eine Art Feigenblatt im männerdominierten Jazz, einem streng patriarchisch geordneten Areal, in dem das weibliche Geschlecht bis auf ganz wenige Ausnahme allenfalls als hübsches, singendes Accessoire vorkommen durfte; toleriert, jedoch nicht wirklich ernstgenommen.
In der Geschichte des Jazz gab es bis vor gut einem Vierteljahrhundert noch höchstens zwei Handvoll Frauen, die sich ins testosteronverseuchte Haifischbecken wagten, viele warfen entmutigt wieder das Handtuch. Marcotulli indes, eine harte Arbeiterin, mit der wichtigen Tugend der Starrköpfigkeit gesegnet, machte weiter, trotzte den Geschlechtervorbehalten, sorgte in Neuburg schon Mitte der 1990er Jahre als Sidewoman des großen Tenorsaxofonisten Dewey Redman für Aufsehen und erwarb sich wegen ihrer Beharrlichkeit ganz allmählich in Europa einen klingenden Namen als musikalische Begleiterin von Chet Baker, Joe Lovano, Billy Cobham, Enrico Rava, Pat Metheny oder den Liedermachern Pino Daniele und Gianmaria Testa. Bis sie allerdings mit ihrem eigenen Trio in den Hofapothekenkeller zurückkehren würde, sollte noch einige Zeit vergehen. Jetzt, im März 2023, zelebriert die 63-jährige Italienerin ein famoses Triokonzert und hinterlässt nach gut zwei Stunden ein restlos begeistertes Publikum. Sie applaudieren nicht etwa deshalb so frenetisch, weil dort oben eine Frau sitzt, sondern, eine richtig gute, eine außergewöhnliche Pianistin.
Dabei muss Rita Marcotullis Spiel nicht zwangsläufig „weiblich“ klingen – was immer das auch sein mag – oder womöglich gar „männlich“, gleichzusetzen mit aggressiv oder rüde, um aufzufallen. Ihre Handschrift ist bunt, leidenschaftlich, lebensbejahend, neugierig, voller Schlingen und harmonischer Finessen, mitunter rasend schnell. Vor allem verringert die Tastenvirtuosin die Distanz zwischen italienischen Canzoni und amerikanischen Gospels, zwischen den Mooren des Flusses Po und den Sümpfen des Mississippi auf eine absolut überschaubare Distanz. Dazu verwendet sie in ihren behänden Akkordsprüngen volksmusikalische Zitate und Bluesfiguren absolut gleichberechtigt und findet immer wieder neue, überraschende Wege. Mitunter erinnert Marcotullis ostinater Stil in pulsierenden Kompositionen wie „Scape“ an große Elfenbein-Virtuosen wie Randy Weston, Mal Waldron oder Abdullah Ibrahim – ein Vergleich, der freilich nur mit einem Rhythmustandem funktioniert, wie es rhythmischer kaum sein könnte. Denn Michel Benita, die französische Bass-Instanz, und der quecksilbrige mexikanische Perkussionist Israel Varela grooven vermutlich sogar noch im Schlaf weiter.
Eine Traumbesetzung also für eine Pianistin, die ihr Instrument deshalb beinahe selbstverständlich ebenfalls wie ein Schlagzeug mit 88 Trommeln und Becken benutzt. Aber Marcotulli kann auch Balladen voller dunkelblauer Schwermut, sie erzählt darin Geschichten aus vergangenen Tagen, öffnet Blickwinkel in eine andere Welt und zeigt auf, dass ein Pianotrio durchaus auch ohne echtes Drumset funktionieren kann. Denn Israel Varela – dies wurde vor allem im energiegeladenen ersten Set überdeutlich – liebt es, mit seinen Händen zu klatschen, auf den Fellen zu rascheln oder zu singen, während er mit den „klassischen“ Jazzeinsätzen, die über Sticks und Becken laufen, eher ein bisschen fremdelt. Macht nix! Schließlich fungiert Michel Benita mit seinem eindringlich federnden Basssound ja als perfektes Bindeglied zwischen Piano und dem unaufhörlich treibenden Puls Varelas.
So kann sich auf leichte, verspielte Weise eine Kraft entwickeln, die sich aus der Melodie und der puren Lust am Augenblick heraus entwickelt und von jedem im Kellergewölbe Besitz ergreift. Das Verdienst einer eindrucksvollen Pianistin. Einer starken Frau.