Donaukurier | Karl Leitner
Wer von Nordic Jazz spricht, denkt an Skandinavien, eine ganz bestimmte, damit verbundene Stimmung und daran, dass die landschaftliche und klimatische Umgebung anscheinend durchaus mitunter abfärbt auf die Art des Komponierens und Spielens. Der Begriff des Southern Jazz hingegen kommt – zumindest in Europa – so gut wie gar nicht vor. Vielleicht sollte man ihn ja einführen.
Lichtdurchflutete Harmonien, fließende Rhythmen, Melodien, die an Sonne und Wärme denken lassen, Lebensfreude und Dolce Vita – irgendwie schwebt der Hauch des Südens über dem, was das Quartett um den Pianisten Lorenzo Bellini akustisch an diesem Abend im Birdland Jazzclub in Neuburg ausbreitet. Anscheinend habe die vier jungen Italiener, die sich an der Berklee School Of Music in Boston erstmals über den Weg gelaufen und seither gemeinsam europaweit unterwegs sind, auch ein wenig vom Duft ihrer Heimat mitgebracht, wenn sie Stücke wie „Fragile Spirit“, „From Omega „ und „Source“ intonieren und damit eine freundliche, positive Grundstimmung verbreiten, verfügen sich doch allesamt über klare, sensible Melodien, und eine harmonische Tiefe, der man sich als Zuhörer emotional gerne ausliefert.
Was Bellni abliefert, hat wohlgemerkt überhaupt nichts zu tun mit der landesüblichen Folklore auf dem Stiefel, sondern lässt einen eher an den frühen Pat Metheny denken – was natürlich auch an Luca de Toni liegt und dessen vorzüglicher Figur, die er an der E-Gitarre abgibt. Es gibt fest umrissene Strukturen, innerhalb derer aber genügend Platz ist für einen mit leichter Hand inszenierten Flow, Strukturen, die ihn nicht nur zulassen, sondern geradezu befördern. Es gibt Passagen, bei denen man den Eindruck hat, die Band wolle es ganz einfach mal entspannt und mit Genuss laufen lassen. Und es gibt Bellini, der – zusammen mit De Toni, der ebenfalls als Komponist in Erscheinung tritt – die Richtung vorgibt. Er ist der „Architekt am Klavier“, der unisono mit dem Gitarristen als Partner die Themen entwirft und vorstellt und sie dann zusammen mit Matteo Padoin am Kontrabass und Andrea Dionisi am Schlagzeug bearbeitet.
Die Kompositionen sind zwar von einer bewundernswerten Leichtigkeit, aber keine Leichtgewichte. Obwohl sie eher an eine wellige Hügellandschaft erinnern als an schroffe Felswände, gibt es da durchaus immer wieder Grate, die erst einmal gemeistert werden wollen, ohne dass der Fluss darunter leidet. Ein weicher Ton, eine schöne, vielleicht sogar verträumte Melodie, bei der man gerne die Augen schließt, bedeutet nicht, dass es irgendeinen Grund gäbe, sich einlullen zu lassen. Nein, Aufmerksamkeit ist schon gefragt, denn man muss durchaus mit unerwarteten Richtungsänderungen, harmonischen Schwankungen und rhythmischen Unebenheiten rechnen. Dynamik, innere Spannung und kleine Exkursionen in die Gefilde abseits der markierten Wege gehören ebenso mit zum Konzept wie eine gewisse Vorhersehbarkeit, die dem Zuhörer Sicherheit verleiht.
Das Konzert des Bellini Quartet ist einer dieser Abende im Birdland, an dem es mal nicht um große Namen und bekannte Musiker des Jazz geht, sondern um die Möglichkeit, Neues zu entdecken. Zum Beispiel diese Band aus Italien, von der vorher wohl die wenigsten gehört hatten und die doch einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt.
Neuburger Rundschau | Dr. Tobias Böcker
War sie vor gut einem Jahr noch deutlich pessimistischer gestimmt angesichts der Entwicḱlungen in der Welt, sorgte die US-amerikanische Ausnahmepianistin Lynne Arriale nun im Birdland Jazzclub für eine Atmosphäre von Hoffnung, Wärme, Menschlichkeit und Ermutigung, eher leise zwar, aber umso eindringlicher.
Der Kommentar zur Zeitgeschichte steht von Beginn an auch über dem diesjährigen Konzert. Den Opener »Courage« widmet Lynne Arriale dem Volk der Ukraine, auch das nachfolgende »Couriosity« atmet bewegte Nachdenklichkeit. Mit »Dance Of The Rain« bewegt sich das Konzert ein Stück mehr zur Innerlichkeit, das grandiose Bassintro von Alon Near lässt die Regentropfen mit tänzerischer Leichtigkeit in den Herbst fallen, der Song entwickelt sich zum bewegten Bild eines schier zeitenthobenen Sonntagnachmittags am verhangenen Regenfenster beim Blick ins herbstliche Bunt: Eine jener tyischen Arriale-Kompositionen, die so viele Bilder wecken, so viele Gefühle, die das Herz bewegen, Musik, getragen von Entschleunigung und Sehnsucht, aber auch leiser Seligkeit und sanfter Erfüllung gar.
Eine wahre Hymne widmet die Pisnistin der »größten Kraft der Welt«, die uns trägt und voranbringt, »Love«, erhaben wie ein Choral, mit aller Offenheit zu jener höheren Macht, der wir uns verdanken, auch wenn wir uns zuweilen »slightly off-center« bewegen und allen »Secrets« zum Trotz.
Mit Alon Near, dem ungemein feinfühligen Bassisten, dessen sonorer, voluminöser, zugleich überaus präziser Ton das Klangbild ganz wesentlich mitprägt und die feine Anschlagskultur der Pianistin glänzend unterfüttert, und dem hellwach melodiebewussten, mal orchestral, mal zart streichelnd aufspielenden Drummer Lukasz Zyta bildet Lynne Arriale ein geradezu magisches Dreieck musikalischer Sensibilität.
Etliche Granden der Art of Piano stehen Pate bei diesem wunderbaren Konzert, das Erbe u.a. von Bill Evans, Keith Jarrett, Thelonious Monk, Bud Powel und vor allem des südafrikanischen Pianisten Abdullah Ibrahim amalgamiert in Lynne Arriales pianistischer Persönlichkeit zu einem charakterstarken Individualstil von hohem Wiedererkennungswert, resolut und grazil zugleich, mal in orchestralen Akkorden und sensitiven Melodien, mal auch in blitzgeschwinden Läufen, klaren Kontrasten, Kurven und Kanten, immer durchatmet von Sensibilität und Identifikation, nie aneinandergereiht oder ausgestellt, immer in organischer Hingabe zur reinen Kraft der Musik.
»Wider As The Sky«: Eine Feier der Vielfalt des Lebens und der Verbindung der Menschen untereinander in den ungeahnten Dimensionen der Wirklichkeit! Zwei Zugaben am Ende eines gefeierten Konzerts: Paul McCartneys »Let It Be« und Abdullah Ibrahims »Mountain Of The Night«, eindringliche Hymnen der Gelassenheit, der Hoffnung, des Vertrauens.
Donaukurier | Karl Leitner
Am Ende des Konzerts, nach zwei umjubelten Zugaben, liegen sie sich in den Armen. Musiker, Bandbetreuer, Veranstalter und der Vertreter von ECM Records, der extra angereist ist, um das Yuval Cohen Quartet, das vor nicht allzu langer Zeit erst einen Vertrag bei dem Label unterschrieben hat, zu beglückwünschen. Was für ein Abend! Sopransaxofonist Yuval Cohen, Bruder von Avishai und Anat Cohen, die im Bekanntheitsgrad derzeit noch vor ihm liegen, Pianist Tom Oren, Kontrabassist Alon Near und Schlagzeuger Alon Benjamini werden nicht müde, sich immer wieder bei dem andächtig lauschenden und nach jeder Nummer lauthals jubelnden Publikum zu bedanken. Worauf selbiges den Spieß umdreht, begeistert von der Spielkultur, der immensen Vielfalt, der emotionalen Tiefe und der Warmherzigkeit, die von diesem Quartett ausgeht.
Und hätte die Band auf der Bühne auch noch ein paar Stunden länger weiter gespielt, wäre das vermutlich niemandem zu viel geworden. Es gibt Momente, die man am liebsten festhalten möchte. Das Konzert ist so einer. Hinter jedem der elf Stücke, die Cohen für das Birdland ausgewählt hat, steht eine Geschichte. Die meisten davon befinden sich auf dem ECM-Debut, das den Titel „Winter Poems“ trägt, aber nichts zu tun hat mit Schneestürmen und Minusgraden, sondern eine Verbindung herstellt von Franz Schuberts „Winterreise“ als Ausgangspunkt und Cohen’s Interpretation derselben. Der Gegenpol dazu ist „Blues For A Better World“, das unter dem Eindruck des Gaza-Krieges entstanden ist, dessen Auswirkungen die Band, ansässig in Tel Aviv, hautnah täglich miterlebt. Und dann sind da ja auch noch die kleine Melodie von „Helech Ruach“, was im Hebräischen so viel wie „Stimmung“ heißt, die in Richtung Klezmer verweist, und „Song For Lo Ann“ mit regelrecht singendem Kontrabass, weich federnden Drums und einem Pianisten, der sich nicht nur hier mit diebischer Freude quer legt. In „Dance Of The Nightingale“ und „Avia“ gleich zu Beginn spielt die Band ihre unglaubliche technische Brillanz aus, offenbart mit „First Meditation“ anschließend ihre Hingabe, ja, Liebe zum Lyrischen und stellt anhand von „For Charlie“ dem Publikum schließlich augenzwinkernd die Frage, wer damit denn wohl gemeint sein könnte. Charlie Christian? Charlie Parker? Charlie Haden? Nein, Charlie Chaplin geisterte ihm im Kopf herum, als er die Nummer schrieb.
Yuval Cohen ist in gewisser Hinsicht ein Jongleur, der mit einer Vielzahl von Ausdrucksformen spielt, vorsichtig und mit Bedacht, dabei kammermusikalische Gesichtspunkte beachtet wie die individuelle Rollenzuteilung nicht nur bei den Soli und ebenso dynamische Aspekte, was, noch verstärkt durch die Absenz jeglicher Berührungsängste, ein dermaßen spannendes Konzept ergibt, dass man nur hingerissen sein kann. Und weil Cohen es damit noch immer nicht gut sein lassen will, gönnt er seinen an diesem Abend neu hinzugewonnenen Fans mit „All The Things You Are“ und „The Best Things In Life Are Free“, auch noch zwei Standards. „Damit Ihr auch was Handfestes habt und nicht nur ständig unser eigenes Zeug hören müsst“, wie er humorvoll anmerkt. – Das Yuval Cohen Quartet ist ein echtes Highlight, gleich am ersten Tag des Monats November, dessen Programm – wegen des Birdland Radio Festivals, aber auch darüber hinaus – regelrecht gespickt ist mit Jazz-Schwergewichten. Was einen heißen Herbst erwarten lässt.
Neuburger Rundschau | Reinhard Köchl
Wintergedichte an Allerheiligen: Passt vielleicht nicht so ganz. Das triste, nassgraue Novemberwetter ist nun mal kein Traum in Weiß. Aber die Atmosphäre, die Yuval Cohen an diesem Samstagabend mit seinem jungen Quartett in den Neuburger Hofapothekenkeller zaubert, kann einen schon gefangen nehmen, aber auch für andere Dinge sensibilisieren. Den verheerenden, unversöhnlichen Krieg in und um seine israelische Heimat zum Beispiel. Eigens dafür hat der dritte Spross der hochmusikalischen Cohen-Familie (Schwester Anat gilt als eine der weltbesten Klarinettistinnen und Bruder Avishai besitzt einen ebenso glänzenden Ruf an der Trompete) ganz aktuell den „Blues For A Better World“ geschrieben. Kein Patriotismus, keine Parteinahme. Einfach nur stille Trauer, Wehmut, Verzweiflung und Schmerz an der Grenze zur Hörbarkeit.
Wenn Yuval Cohen Luft durch sein Mundstück schickt, dann erzählt er Geschichten in seiner ureigenen Diktion; aufregend, nachdenklich, emotional, bewegend. Mit allen Wassern einer klassischen Ausbildung gewaschen, erweist er sich als disziplinierter Freigeist, der seine anerzogene Virtuosität klug mit der Expressivität John Coltranes vermengt, der Instanz am Soprano schlechthin. Nicht umsonst zollt der 52-Jährige seinem Vorbild mit „My Favorite Things“ Tribut und offenbart dabei ohne Effekthascherei, wie sehr er dieses schwierig zu bedienende Instrument beherrscht. Aber Yuvals Stern könnte nur halb so hell strahlen ohne seine junge, extrem musikalische Freundesband im Rücken. Tom Oren erweist sich als einer der besten Pianisten, die je ihre Finger auf die Tasten des Birdland-Bösendorfers legten. Mit der Neugier eines Malers agiert Bassist Alon Near, während Drummer Alon Benjamini sich wie ein Waldläufer omnipräsent, federleicht und blitzschnell durch alle Tempi bewegt. Das Quartett agiert aus einem Guss und erhebt so den „Song For Lo Am“ mit seiner wunderschönen, eingängigen entschleunigten, ruhig pulsierenden Melodie zu einem innerlich wärmenden Höhepunkt.
Es sind wahre Glücksmomente des Hörens und Genießens, die im Laufe der viel zu schnell vorüberziehenden 120 Minuten pausenlos die Seele fluten. „Avia“ zum Beispiel mit seinen vielen kleinen Lichtern erweist sich als profundes Exempel für die feine, gelungene Verflechtung des klassischen Genres mit dem Jazz, angereichert durch unscheinbare Sprenkel aus jüdischer und nahöstlicher Folklore. „For Charlie“ – nicht etwa dem Bassisten Haden oder dem Altsaxofonisten Parker gewidmet, sondern Charlie Chaplin – erobert jedes Herz als zarte Ballade, die mit jedem Ton ein klein bisschen mehr zu schmelzen scheint. Der gesamte Birdland-Jazzclub lauscht mit offenen Mündern, und am Schluss kennt die Begeisterung keine Grenzen mehr. Zwei Zugaben müssen es für Yuval Cohen und Co. unbedingt sein, und wenn Technik-Chef Robby Komarek nicht das Licht hochgedimmt hätten, würden die vier wahrscheinlich immer noch spielen. Bravo!
Donaukurier | Karl Leitner
Im Jahre 2008 kam der schwedische Pianist Esbjörn Svensson bei einem Tauchunfall nahe Stockholm ums Leben. Er hatte das Format des Piano Trios im Jazz auf ein ganz neues Level gehoben, ihm quasi neues Leben eingehaucht. Manche sagen, er habe es neu erfunden. Der Sound seines Esbjörn Svensson Trios, des E.S.T., war unverkennbar, und weil er viele Einflüsse zuließ und damit auch noch riesigen Erfolg hatte, war er vielleicht sogar so etwas wie ein Popstar des Jazz.
Mit seinem Tod tat sich eine riesige Lücke auf. Wer sollte dort weitermachen, wo er hatte aufhören müssen? Wer würde sein Erbe nicht nur verwalten, sondern womöglich sogar noch weiter entwickeln? Konnte man diese Lücke füllen, ohne damit zum Lückenbüßer zu werden? – Sein Landsmann Daniel Karlsson versucht es. Und es gelingt ihm auch. Auf sehr beeindruckende und vor allem elegante Weise sogar, was er auf diversen Alben und an diesem Abend beim Konzert im Neuburger Birdland Jazzclub beweist. Zusammen mit dem Kontrabassisten Christian Spering und dem Schlagzeuger Fredrik Rundqvist, der bereits vor gut einem Jahr mit der Posaunistin Karin Hammar in Neuburg gastierte, bietet er einen Querschnitt an durch alte Kompositionen, aktuelle Stücke und solche, die noch nicht einmal veröffentlicht sind. Damit wagt er einen Streifzug durch den Grenzbereich zwischen Modern und Mainstream, holt sich Anregungen bei Fusion und Pop, lotst sein Trio in kammermusikalische oder auch orchestrale Bereiche, spielt behutsam mit Effektgeräten, bewegt sich mei-sterhaft im Klangkosmos des Nordens, lässt seine Sounds über den Wassern schweben oder sich an Felswänden brechen.
In „Sorry Boss“ etwa, dem Titelstück seines aktuellen Albums, entwickelt sich aus der Basis eines sich wiederholenden Motivs heraus ein unwiderstehlicher Groove, der mit Harmonien unterlegt wird, die einen als Zuhörer regelrecht umarmen. Zusammen mit den vielgestaltigen Melodien ergibt sich daraus eine verführerische Schönheit, die trunken macht und die man am besten würdigt, in dem man sich ihr ganz einfach ausliefert, widerstandslos ergibt. Natürlich geht es nicht ohne Soli. Die aber kommen weniger in geregelter Abfolge, – obwohl eine solche natürlich vorab festgelegt wurde – sondern scheinen behutsam herauszuwachsen aus dem Humus, den die Band ausgebreitet hat und mit immer wieder neuen, überraschenden Ideen düngt.
Der weite Horizont einer Nummer wie „Lydiam Concept“, der Drive hinter „Correspondance“ kurz vor der Pause, das allmähliche Vortasten hinein in eine Komposition namens „Lilly“, innerhalb derer es dann durchaus handfest zur Sache geht, die sich am Ende aber akustisch davonzuschleichen scheint – das sind Bausteine zu einem schillernden, vielgestaltigen Konzert, das, nüchtern betrachtet, nach wie vor „nur“ von einem Pianotrio gestaltet wird. Aber eben von einem, das zwar bisweilen noch das Vokabular des E.S.T. benutzt, aber längst auch sein eigenes. Und wenn ihm mal tatsächlich die passenden Wort fehlen sollten, dann erfindet es einfach neue. Wie etwa bei dem rasanten „Gud Gess“, oder dem nach vorne drängenden „Clock Out“, bei denen vor allem Karlsson selbst alle Register zieht. Das E.S.T. bleibt unvergessen, aber das D.K.T. nach diesem herausragenden Konzert im Birdland sicherlich auch.
Donaukurier | Karl Leitner
Wenn man es recht bedenkt, ist das Birdland-Konzert des Tcha Limberger Trios, zu dem an diesem Abend der Klarinettist Engelbert Wrobel als Gast stößt, eine Reise in die Vergangenheit. Von den Kompositionen des Abends dürfte keine weniger als 80 Jahre auf dem Buckel haben, die völlig unverstärkte Musik, die nur in Clubs mit so hervorragenden akustischen Bedingungen wie dem Birdland möglich ist, lehnt sich an ihren Ur-Sound von einst an und man fühlt sich – obwohl natürlich niemand im Saal selbige wirklich erlebt hat – zurückversetzt in die Ära des New Orleans Jazz und des Harlem Swing. Oder vielmehr in die Vorstellung, die man von ihr hat.
Der Charme des Altmodischen durchweht das Birdland-Gewölbe, der aber hat überhaupt nichts Betuliches, Museales oder Verstaubtes an sich. Die mit dem Teufelsgeiger Tcha Limberger aus dem belgischen Brügge, dem Gitarristen Dave Kelbie aus London, Sebastien Giradot aus Paris am Kontrabass und dem nahe Köln lebenden Klarinettisten Engelbert Wrobel an der Klarinette international besetzte Band holt nämlich einige Preziosen im wahrsten Sinne aus der Versenkung, hievt sie in die Gegenwart und interpretiert Fats Waller, Sidney Bechet, Jelly Roll Morton und Django Reinhardt in neuen Arrangements, leidenschaftlich und mit Witz. Hier haben sich vier Herren gefunden, die ihre Musik lieben, für sie brennen und alles dafür tun, damit ihrem Publikum – das Birdland ist wieder einmal ausverkauft – ähnliches widerfährt.
Während der Mann an der Gitarre mit stoischer Ruhe den Beat vorgibt und der am Bass für die Erdung sorgt, während Wrobel kreiselt und wirbelt, dass es nur so eine Freude ist, bringt Limberger, der als Kleinkind sein Augenlicht verlor, das Kunststück fertig, zu singen und sich dabei selbst mit der Violine zu begleiten. Gitarre und Gesang, Piano und Gesang, das kennt man gemeinhin und ja, es gab auch mal einen Svend Asmussen. Aber gleichzeitig? Und dermaßen brillant? Nicht umsonst gilt Limberger als einer der wichtigsten Geiger des Gypsy Jazz und als Künstler, der jederzeit offen ist für das, was außerhalb der musikalischen Blase der traditionellen Musik der Sinti und Roma passiert, der seine Wurzeln in neue Arrangements verpackt, der die Melancholie der Manouche und den Groove der Metropolen kombiniert, der in Englisch und Romanes singt und sich mit Wrobel mitunter denkwürdige Duelle liefert.
Wenn die beiden Solisten sich gegenseitig jagen, necken, umgarnen und schließlich umarmen, ist das ein wahres Fest für alle, die auf Virtuosität und fintenreiche Läufe stehen. Wer hingegen einfach nur schwelgen, sich treiben lassen und genießen will, kann das bei Stücken wie Billy Eckstine’s „I Surrender Dear“, Billy Mayhew’s „It’s A Sin To Tell A Lie“ oder Jack Teagarden’s „Mysery And The Blues“ vortrefflich tun. Oder auch bei „I’ll Be Glad When You’re Dead“ oder „Someday You’ll Be Sorry“, Songs, die Herzschmerz, Trauer und Wut so kongenial in Einklang bringen. Vier Musiker, vier Kollegen, vier Typen arbeiten zusammen, dürfen dabei ihre individuelle Identität beibehalten und dienen doch einem gemeinsamen Ziel, dem Erhalt der Musik aus einer Ära, die zwar vermutlich auch nicht besser war als die unsrige, aber tolle Musik hervorgebracht hat. Heute wissen wir, dass sie zeitlos ist.
Neuburger Rundschau | Peter Abspacher
Die Auswahl der Songs an diesem Mainstream-Abend im Birdland Keller war ungewöhnlich. Und die Art, wie vor allem die Sängerin Zoe Francis und das Instrumental-Quartett mit Bandleader Jim Mullen die Songs präsentierten, war es auch. Zu hören waren selten aufgeführte Stücke aus den 30er und 40er Jahren des letzten Jahrhunderts. Eine spannende Idee, Mainstream hier nicht als Neuinterpretation bekannter Standards zu verstehen, sondern als Rückkehr zu einer frühen Phase einer Haupt-Stilrichtung des Jazz.
Vor allem aber die Art, wie die Sängerin und ihrer vier Mitstreiter Jim Mullen (Gitarre), Wolfgang Kriener (Bass), Scotty Gottwald (Schlagzeug) und Stephan Holstein (Saxofon/Klarinette) diese Musik zum Klingen brachten, ist bemerkenswert. Zoe Mullen zeigte besonders im ersten Set eine sehr zurückhaltende, manchmal fast schüchtern wirkende Stimmführung, ihr Gesang hatte absolut nichts Dominierendes. Jeden Anflug dieser Art verbot sich Zoe Francis, ein angenehmer Zug im Vergleich mit anderen Sängerinnen und Sängern, die oft den Drang haben, sozusagen die 1. Geige zu singen.
Die zarte Stimmführung von Zoe Francis bedeutet aber auch, dass ihr bei Songs wie „Some way in the night“ oder „The early autumn“ die Ausstrahlung und der Strahlglanz fehlt, den auch diese Stücke aus der Jazz-Frühzeit gut vertragen würden. Ein Schuss mehr Emotionalität im gleichmäßig ruhigen Gesang wäre da kein Fehler gewesen. Im 2. Set, bei „Keep raining“ und in „Sunday in New York“ ging Francis mehr aus sich heraus, auch vom animierenden Spiele ihrer Instrumental-Kollegen motiviert.
Ein zweiter, sehr angenehmer Aspekt kennzeichnet den Stil diese Abends. Mullen, Kriener, Gottwald, Holstein und Francis musizieren wie eine Quintett-Einheit. Die menschliche Stimme wird oft instrumental geführt, die Instrumente wie eine menschliche Stimmer. Diese Verschmelzung äußert sich auch ganz direkt. Der feinfühlige Bassist Wolfgang Kriener singt leise und mit einer feinen Tenorstimme die gezupften Soli mit, zwei Oktaven höher als seine Kontrabass-Melodien – ein verblüffender Effekt. Bandleader Mullen bewegt seine Lippen, während er seine poetischen Soli zelebriert, ständig mit, als wolle er einen stummen Gesang hinzufügen.
Stephan Holstein spielt viele seiner Soli wie eine Arie, mit feinem, intensivem Ausdruck. Die Vortragsbezeichnung „cantabile“ (also instrumental, aber wie gesungen) wäre dafür genau richtig. Holstein und Mullen zeigen auf ihren Instrumenten, wie nahe sich Gesang und Instrumentalmusik sein können. Mit der Sängerin formen sie oft ein Trio (oder Terzett), bei dem für die Zuhörer die Grenzen zwischen Stimme und Instrumenten aufgehoben scheinen.
Dass ein Schlagzeuger nebenbei noch singt, das wäre dann doch zu viel verlangt. Aber Scotty Gottwald trägt zu der speziellen Welt dieser fünf Jazzer auch seinen Teil bei. Er arbeitet ganz selten mit den Sticks, die für die Knalleffekte zustänig wären, auch nicht mit der großen Trommel. Statt dessen setzt er seine bloßen Hände auf den drums ein, oder die Besen, die einen fast schon gesanglichen Klang erzeugen können. Mehr Emotion hätte sich mancher vielleicht gewünscht. Aber verfeinerte Power hat auch eine große Kraft.
Donaukurier | Karl Leitner
Früher kam der schottische Gitarrist Jim Mullen öfter mal nach Bayern. Regelmäßig etwa zu den Ingolstädter Jazztagen. Deswegen hat er auch viele alte Bekannte hier, deswegen widmet der das Konzert, das er zusammen mit seiner Gattin, der Londoner Jazzsängerin Zoe Francis, im Birdland gibt, auch dem Saxofonisten Bob Rückerl und dem Gitarristen Helmut Nieberle, den beiden viel zu früh verstorbenen einstigen Aushängeschildern der Regensburger Jazzszene, deswegen hat er auch keine Mühe, als Begleiter Stephan Holstein (B- und Bassklarinette, Tenorsaxofon), Wolfgang Kriener (Kontrabass) und Scotty Gottwald (Schlagzeug) zu gewinnen, die an ihren Instrumenten mit zum Besten gehören, was wir hier in Bayern zu bieten haben.
Mullen hat im Laufe seiner Karriere schon in den Bands von Pete Brown, Brian Auger, Georgie Fame und Van Morrison gespielt, war auch Teil der legendären Average White Band, und ist einer der ganz wenigen seines Faches, der beim Spielen lediglich den Daumen seiner rechten Hand benutzt, also weder Flat- noch Finger-Picker ist. Aber um all das geht es bei diesem Konzert nicht, sondern um eine gezielte Auswahl an Songs, die möglichst optimal zu Zoe Francis‘ Stimmlage, zu ihrem Naturell und zu ihrem Ausdruck passen. Also bringt das Quintett Stücke aus der Feder einiger der großen Jazz-Komponisten des 20. Jahrhunderts zu Gehör und auch weniger bekannte Perlen aus dem Great American Songbook. Die meisten davon hat Francis auf ihren eigenen Alben „Remembering Blossom Dearie“, „Somewhere In The Night“ und „Blue Town“ veröffentlicht, darunter etliche Balladen, weil sie dem Bühnennaturell der Sängerin besonders entgegen kommen.
Francis ist nicht der Typ, der sich in den Vordergrund drängt, ist Sängerin und nicht Entertainerin und alles andere als eine Stimmungskanone. Sie überzeugt vielmehr durch ihre Intonation und durch ihre Klangreinheit. Und man unterschätzt sie womöglich anfangs sogar, weil sie sich gegenüber der Band akustisch nicht eindeutig durchsetzen kann. Das ändert sich erst nach und nach, als man sie auch von der Lautstärke her heraushebt, und es ist sicherlich kein Zufall, dass sie sich die Highlights des Abends für die zweite Hälfte aufgespart hat. Das sind Harold Arlen’s „When The Sun Comes Out“, die romantische Version von Joe Stafford’s „The Things We Did Last Summer“ und Leonard Bernstein’s „Lonely Town“, der große Broadway Hit von 1944, der es nie in den Film „On The Town“ geschafft hat, weil er zu viele Moll-Akkorde enthielt. So argumentierte man zumindest in Hollywood, ohne zu berücksichtigen, dass ihn gerade das so einzigartig machen würde. Und überdies viele Jahrzehnte später auch noch zum Matchwinner beim Birdland-Konzert.
Neben Mullen selbst, der als einfühlsamer Begleiter ebenso zu überzeugen weiß wie als Solist, kann sich vor allem einmal mehr Stephan Holstein in Szene setzen. Man kennt das ja von ihm aufgrund vieler Auftritte in der Region: Wenn er zu einem Solo ansetzt, wird es so richtig spannend. Aber wie immer macht’s wieder mal die Mischung. Die handverlesenen Stücke aus Musical, Film und Broadway-Shows sowie ein paar Standards und deren Umsetzung in die Sprache des Swing und des Mainstream Jazz kommen beim Publikum bestens an. Das ist, was letztendlich zählt.
Donaukurier | Karl Leitner
In der Nacht sind alle Katzen grau, heißt es. Draußen auf dem Karlsplatz vielleicht schon, wo in dieser Nacht wieder einmal der Übertragungswagen des Bayerischen Rundfunks steht, um das dritte Konzert des derzeit laufenden Birdland Radio Jazz Festivals aufzuzeichnen, aber ganz sicher nicht drinnen im Neuburger Birdland Jazzclub, wo das Quartett der Bassistin Lisa Wulff ein Konzert gibt, das gerade durch seinen Farbenreichtum und seine klanglichen Schattierungen zu einem ganz besonderen wird.
Lisa Wulff war zuletzt im März 2022 mit einer eigenen Formation zu Gast im Birdland. Seither ist einiges passiert. Mit Adrian Hanack (Tenorsaxofon, Klarinette, Flöte), Valentin Renner am Schlagzeug und Frank Chastenier am Klavier hat sie eine neue Band um sich geschart, mit „Poison Ivy“ ein neues Album aufgenommen und mit „MCQ – Multiple Choice Question“, „Cracking Walls“, „On The Rebound“ sowie mit „Hand aufs Herz“ als Uraufführung ihren bereits bestehenden Kompositionszyklen weitere Stücke hinzugefügt, die es im Rahmen einer kleinen Tour vorzustellen gilt.
Wulff füllt ihre Rolle als Bandleaderin, die die Fäden in der Hand hält, kompetent aus, ohne sich in Szene setzen zu müssen. In der Gruppe herrscht Gleichberechtigung. Nicht einmal Chastenier, der zusammen mit ihr eines der letzten Konzerte mit dem legendären Rolf Kühn im Birdland gegeben hat, bekommt eine Sonderrolle. Auch nicht Adrian Hanack, der Hauptsolist, wird über Gebühr gefeatured, auch nicht Wulff selbst, nein, das Hauptaugenmerk liegt auf dem kompakten Bandgefüge, auf den höchst unterschiedlichen, farblich schillernden Kompositionen, die zusammen genommen einen bunten, floristisch passend gestalteten und überaus interessanten Strauß ergeben. Kammermusikalisch intim, dann wieder räumlich ausgreifend. Akribisch auskomponiert und sich innerhalb eines akademisch gesetzten Rahmens bewegend, dann wieder wie befreit expandierend. Schwebend und verträumt, dann wieder kraftvoll zupackend. – Der Va-riantenreichtum ist enorm und wird an diesem Abend zum Markenzeichen der Band an sich. Ständig wechselt das klangliche Outfit. Wulff lenkt durch den Einsatz des elektrisch verstärkten Sopranbasses Stücke wie das überragende „Valiant“ und das knackige „In My Head“ in Richtung Fusion, tendiert bei der Vertonung von „Die stille Stunde“ aus Wolfgang Borcherts „Die Küchenuhr“ ins Lyrische, spielt bei „Nightmares And Daydreams“ und bei „The Darker The Night The Brighter The Stars Glow“ mit den Komponenten der Lautstärke und der Intensität.
Aus genau dieser Vielfalt ergibt sich auch der Grundtenor, das charakteristische Merkmal, das die zwei Sets durchweht, nämlich die Möglichkeit für Wulff, als Bandleaderin alles auszuprobieren, was ihr vorschwebt, die Lust zu experimentieren, ihren Stücken dabei aber stets eine ganz persönliche Note als Komponistin zu verleihen, passende Mitmusiker für deren Umsetzung zu gewinnen und so eine eigene Nische für sich zu finden, in der sich sicherlich auch künftig noch so einiges tun wird.“ – Mit „Then We Listened To The Moon“ entlässt Wulff ihr Publikum schließlich in die Nacht, knipst den Farbenreichtum nach zwei Stunden einfach aus. Jetzt dominieren wieder die Grautöne. Farbenpracht drinnen, Tristesse draußen. Alles hat seine Zeit.
Donaukurier | Karl Leitner
Es ist eines dieser Konzerte, wie sie nur alle paar Jahre mal vorkommen. Ist der letzte Ton verklungen, ist man zuerst einmal sprachlos. Um sich anschließend die Frage zu stellen: Was war das denn? – In diesem Falle freilich hätte man vorgewarnt sein können. Hatte nicht Camille Bertault, das Stimmwunder aus Paris, im Februar 2022 zusammen mit dem Pianisten David Helbock bereits ein umjubeltes Konzert im Birdland gegeben und ihre Ausnahmestellung als Sängerin, Stimmakrobatin und Powerfrau bewiesen? Ja, man hätte es wissen können, und viele taten das wohl auch, denn das Birdland ist rappelvoll bei diesem Konzert, das der Bayerische Rundfunk im Rahmen des Birdland Radio Jazz Festivals mitschneidet.
2022 noch hatte sich Bertault, abgesehen von den schier unbegrenzten Möglichkeiten, die ihr ihre Stimme bietet, auch noch elektronischer Hilfsmittel, akustischer Effekte und technischer Gerätschaften bedient, um ihre teils bissigen, teils melancholischen oder auch witzigen Texte ins rechte akustische Licht zu rücken. Heute steht ihr statt dessen eine erstklassige Band mit Julien Alour (Trompete, Flügelhorn), Fadih Farah (Piano), Christophe Minck (Kontrabass) und Minino Garay (Schlagzeug) zur Verfügung, die nur eines im Sinn hat, nämlich gemeinsam mit ihr diesen Saal zu knacken und den Abend in ein Fest zu verwandeln. Was dem Quintett auch problemlos gelingt. Mit wunderschönen Kompositionen, mit exzellenten Musikern, mit Bertault’s Charme, ihrem Selbstbewusstsein, ihrer enormen Energie und vor allem mit dieser Stimme. Bereits mit dem Titelsong ihrer aktuellen CD „Bonjour Mon Amour“ hat sie das Publikum um den Finger gewickelt, das ihr sofort bedingungslos ergeben ist, zwei Sets und drei Zugaben lang.
Es liegt viel Poesie in der Luft, wenn Bertault in „Dodo“ von ihrer Katze singt und in „Ma Muse“ ihre Liebe zur Musik in Worte und Töne fasst. Es liegt viel Pop in der Luft, auch Rap, auch Funk, auch das französische Chanson, Jazz sowieso. Die Grooves sind markant und eindringlich. Keiner sitzt im Saal, der nicht mit irgendeinem Körperteil mitwippen, den diese Mischung aus Tanz, Pose, Körperlichkeit und Sensibilität nicht berühren würde, der von der Performerin, Tänzerin und Schauspielerin, der Jazz-Scatterin und Vier-Oktaven-Diva – all diese Disziplinen und Rollen hat Bertault von der Pieke auf gelernt – nicht fasziniert wäre. Es ist, als betrachte sie das Birdland als eine Art Abenteuerspielplatz. Alles ist erlaubt und alle, die anwesend sind, sollen ihren Spaß haben, auch sie selbst.
Wobei befreites Herumtoben mitunter ja auch schief gehen oder gefährlich werden könnte. Nicht bei ihr. Wenn Bertault etwa Themen eines Hermeto Pascoal oder eines Johann Sebastian Bach unisono mit dem Pianisten oder dem Trompeter in den Saal schmettert in einem Tempo, bei dem man mit dem Hören kaum mitkommt, wenn sie als Kehlkopf- und Stimmband-Artistin einen Purzelbaum nach dem anderen schlägt, dann geschieht das dermaßen souverän und sicher, dass man nur noch mit offenem Mund dasitzen kann. Mit der eingangs gestellten Frage „Was war das denn?“ im Hinterkopf. Wobei die Antwort im Grunde ganz einfach ist. Das war das Konzert der – neben Tamara Joy, ebenfalls 2022 – beeindruckendsten Sängerin, die im Birdland in den letzten Jahren zu hören war. Und das will etwas heißen angesichts der dortigen Gästeliste.

