Donaukurier | Karl Leitner
Eine Frage stellt sich bei solchen Anlässen immer wieder: Hat man diese alten Swing-Nummern von Duke Ellington, Count Basie und Benny Goodman nicht allmählich oft genug gehört? Die Antwort aller Fans von „Tea For Fwo“, „Love For Sale“ und all der anderen Klassiker aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist ein eindeutiges „Nein“. Nicht umsonst ist der Neuburger Birdland Jazzclub schließlich wieder mal komplett ausverkauft, als The Three Wise Men dort gastieren.
Warum diese nicht enden wollende Begeisterung für Musik, die fast 100 Jahre auf dem Buckel hat? Weil sie alles hat, was sie zeitlos macht, herrliche Melodien, flotte Rhythmen und Harmonien, die beim Hörer unweigerlich ein Wohlgefühl auslösen. Und warum soll man auch nicht ein klein wenig in Nostalgie schwärmen? Fans von Elvis Presley, den Beatles und von Abba tun dies ja auch. Die verehren sogar all die unzähligen Revival-Bands, deren Hauptbestreben darin liegt, möglichst genauso auszusehen wie die Originale und deren Musik Ton für Ton nachzuspielen.
Was ein komplett anderer Ansatz ist als der, den The Three Wise Men verfolgen. Nachdem das Original nur per Konserve, aber nicht live verfügbar ist, geht es in diesem Fall nicht ums Kopien, sondern um Aktualisierung, Entstaubung und in einigen Momenten sogar um Erneuerung. Der Holländer Frank Roberscheuten (Tenor- und Altsaxofon, Klarinette), der in New York lebende Mailänder Rossano Sportiello am Klavier und der Münchener Schlagzeuger Michael Keul sind dafür genau die richtigen. Eine ihrer jüngsten Platteneinspielungen heißt „Jukebox“, und genau an eine dieser altehrwürdigen Geräte aus dem Hause Wurlitzer oder Rock-Ola erinnert deren Setlist. War die Box gut bestückt, war sie der absolute Renner in den Juke-Joints der damaligen Zeit. Auch das Repertoire der Three Wise Men ist geschickt konzipiert, denn es enthält nicht nur eine Reihe bekannter Hits, sondern auch nicht gar so oft gespielte Songs von Bud Powell, Dave Brubeck und Gerry Mulligan und riskiert auch mal einen Blick zurück in die Ragtime-Ära oder nach vorne in Richtung Bebop.
Das Trio funktioniert wie geschmiert, niemand spielt angeberisch mit dem Gaspedal, der Motor brüllt nicht auf, sondern schnurrt ganz entspannt dahin, völlig unangestrengt, routiniert, engagiert. „Er läuft und läuft und läuft“ hieß das mal in der Reklame. Roberscheuten, der am Saxofon Lester Young und Coleman Hawkins hochleben lässt, Sportiello, ein Multistilist, der Ludwig van Beethoven ebenso in sein Spiel einbaut wie das Stride Piano Fats Waller’s, und Michael Keul als ruhender Pol und gleichzeitig unerbittlicher Pulsgeber im Hintergrund, entfachen vor allem in der zweiten Hälfte des Konzerts fast schon einen Sog, in den man sich als Swing-Fan natürlich liebend gerne hineinziehen lässt. Weil’s ganz einfach richtig Spaß macht.
Ja, Swing ist – an diesem Abend wird’s mal wieder mal deutlich – Musik nicht nur für den Kopf, sondern auch für die Beine, das Herz und die Seele. Früher, zu Zeiten der Jukeboxes in den Kneipen und der Schellacks zuhause, war er die Musik der Charts, war äußerst begehrt und verkaufte sich dermaßen gut, dass sich sogar große Big Bands finanzieren ließen, was heute, zu Zeiten des normierten Formatradios und maschinell erstellter Playlists, kaum noch vorstellbar ist.
Donaukurier | Karl Leitner
„Am Anfang wissen wir erst einmal gar nichts“, sagt der Altsaxofonist Julian Bossert, und Pianist Thomas Rückert fügt hinzu: „Wir spielen jetzt noch ein Stück, aber ich kann nicht sagen, welches“. Das klingt nach einer Band im ganz bewusst gewählten Blindflug-Modus, bei dem sich die Musiker – und mit ihnen ihr Publikum – erst einmal orientieren müssen, nach einem eher intellektuellen Ansatz und vor allem nach einer unbändigen Lust auf Improvisation. Und ganz genau darauf läuft es dann auch hinaus.
Bossert, Rückert und deren Kollegen Stefan Karl Schmid am Altsaxofon, Calvin Lennig am Kontrabass und Fabian Arends am Schlagzeug verfolgen das Konzept „Alles ist möglich!“, lieben das Gefühl der Freiheit beim Improvisieren, sind gleichberechtigte Partner und jeder hat seinen Anteil daran, dass es auch umgesetzt werden kann. Deswegen heißt ihr aktuelles Album auch „Democracy“ und nennt sich das Quintett selbst, das da im Birdland Jazzclub auf der Bühne steht, „Tristano Unchained“. Der blinde Jazzpianist Lennie Tristano (1919 – 1978), war Musiker, aber auch Lehrer von Herbie Hancock, Cecil Taylor, Bill Evans und Bill Konitz. Mit letzterem spielte auch Rückert, auch im Birdland, womit sich der Kreis schließt und verständlich wird, warum die Band so klingt wie sie klingt.
Tristano war der Initiator dessen, was man Kontrafaktur nennt, und Konitz, Bossert, Rückert und der Rest der Band waren und sind deren absolute Fans. Dabei werden aus dem Stehgreif etablierte Jazz-Standards auswählt, über deren bereits vorhandene Akkorde neue Melodien gelegt und somit im Moment des Spielens neue Stücke komponiert. Dass dabei ständig neue Nummern entstehen, belegt die Setlist, die zu völlig anderen Ergebnissen kommt als die Studiosession, die dann zur CD „Democracy“ führte. Nur Horace Silver’s „Peace“ hat es vom Tonträger auf die Birdland-Bühne geschafft, alles weitere sind selbst den Musikern vorher unbekannte Uraufführungen, die einfach nur deswegen entstanden, weil es der Band in diesem Augenblick genau so gefiel.
Freilich, ein bisschen offene Ohren braucht man schon, um das theoretische Konzept dann auch real nachvollziehen zu können. Das Ganze hat trotz – obwohl letzten Endes alles auf Improvisation beruht – nichts mit Free Jazz zu tun, denn man hört durchaus – an manchen Stellen sogar ziemlich deutlich – heraus, auf welchen alten die neuen Kompositionen aufbauen. „Stella By Starlight“, „All The Things You Are“ und „Taking A Chance On Love“ werden vor der Pause zu einem halbstündigen Block zusammengezogen, „Out Of Nowhere“, Body And Soul“ und „Bye Bye Blackbird“ stehen jeweils für sich. Das sind Stücke, die immer wieder im Birdland in anderem Zusammenhang zu hören sind, aber sicherlich nicht in einer derart waghalsigen Bearbeitung wie dieser, bei der nur noch Bruchstücke übrig bleiben und der Rest dem Augenblick und der Eingebung überlassen werden.
Das Schöne ist, dass diese herausfordernde Musik auf ein offenes Publikum trifft, das einfach nur gespannt lauscht, auf Szenenapplaus bewusst verzichtet, weil er hier einfach fehl am Platze wäre, um statt dessen am Ende um so größere Begeisterung zu zeigen. Ein hochinteres-santer Abend.
Neuburger Rundschau | Thomas Eder
Der Vorverkauf verlief anfangs zögerlich. Im Programm war die Musik als modern angekündigt. Man stellte sich auf einen Abend mit Variablen und Unwägbarkeiten ein und dem mulmig mutigen Gefühl, als Konzertbesucher einfach mal etwas Ungewohntes auszuprobieren. Dass es dann ganz anders kam als erwartet, hatten die Besucher im Birdland Jazzclub neben dem Mastermind Julian Bossert am Altsaxophon dem Tenorsaxophonisten Stefan Karl Schmid, dem Pianisten Thomas Rückert, dem Kontrabassisten Calvin Lennig und dem Schlagzeuger Fabian Arends zu verdanken. Um es gleich vorwegzunehmen: Es war ein Abend der Superlative, ein rauschendes Fest der Töne, spannungsgeladen und hochemotional. Der Club war doch noch gut besucht und die Stimmung elektrisierend.
„Stella by Starlight“, „Out of Nowhere“, „Takin’ a Chance on Love“ oder „Bye bye Blackbird“ hießen die Stücke. Lauter Evergreens aus dem Great American Songbook. Nur, sie klangen in weiten Teilen nicht unbedingt so, wie man es gemeinhin im Jazz gewohnt ist. Die fünf Musiker haben sich der Inspiration des in der Mitte des letzten Jahrhunderts aktiven blinden amerikanischen Klavierlehrers Lenny Tristano verschrieben und über die Harmonien in freier Interpretation einfach andere Melodien gelegt. Julian Bossert und Thomas Rückert haben dem Publikum kurz umrissen, wie diese Musik abläuft und was sie auf der Bühne tun. Durch dieses Verständnis wurde das Konzert für die Besucher noch packender. Es gab keinen abgestimmten Ablauf in einem Lied. Die Musik funktionierte durch ein ständiges Hinübergleiten in andere Stimmungen, in neue Ideen, in spontane Deutung. Die Stücke auf diese Art zu spielen, nennt man Cool Jazz.
Lenny Tristano war ein Meister des freien musikalischen Verständnisses. Alle fünf Musiker von Tristano Unchained haben diese Art zu interpretieren verinnerlicht. Es war ein Genuss, einem jeden von ihnen zuzuhören, jeder konnte sich entfalten, keiner wollte dem anderen die Show stehlen oder sich in den Vordergrund drängen. Besonders angenehm war, dass nicht immer alle glaubten, gleichzeitig spielen zu müssen, sondern dass man ihnen die Freude ansah, wenn sie den Intuitionen ihrer Kollegen lauschten und dabei selbst zum Publikum wurden. Es gab keinen Beifall während des Vortrags. Das aufmerksame Publikum hat verstanden, dass es wichtiger und schöner war, einfach zuzuhören und zu genießen.
Eine Zugabe musste noch sein. Wohin sich die entwickelt und was sie letztendlich spielen würden, wussten Tristano Unchained selber nicht. Echt cool.
Neuburger Rundschau | Peter Abspacher
Ihr neuestes Projekt nennen der Geigenvirtuose Matthias Well und die preisgekrönte Pianistin Lilian Akopova „Jazzissimo“. Ein Superlativ, der ein wenig in die Irre führen kann – denn dieses Duo bietet nicht etwa Jazzstandards in Vollendung oder die jazz-typische Improvisationslust. Einer der jüngsten Ableger der großen Well-Familie und seine ukrainische Partnerin am Flügel erobern ihr Publikum mit virtuosen Werken der klassischen Moderne.
Maurice Ravel, Jules Massenet, George Gershwin, Astor Piazzolla und Alexander Rosenblatt heißen die Komponisten. Die Art, wie Matthias Well – ein Teufelsgeiger mit spitzbübischem Charme – und die ebenso feinfühlige wie feurige Pianistin Lilian Apokova diese Stücke im wahrsten Sinn des Wortes in beide Hände nehmen, hat einige Superlative verdient. Der Projektnahme „Jazzissimo“ lässt sich auffächern in eine ganze Reihe weiterer Prädikate.
Die beiden Teufelskerle auf der Birdland-Bühne sind Zauberer des Pianissimo, im sphärischen Flagiolett der Geige etwa bei Piazzollas „Geschichte des Tango“ oder in den wunderbar hingehauchten Klavierklängen eines Alexander Rosenblatt. Und Well wie Akopova stürzen sich mit Verve und technischer Perfektion ins Fortissimo – ein Fortissimo mit unbändiger Kraft, aber nie zu wuchtig. Nicht besonders laut, sondern besonders eindringlich.
Die Tempobezeichnung Prestissimo kommt (für alle begabte musikalische Laien: Gott sei Dank!) in der Klassik, Romantik und der Moderne nicht sehr häufig vor. Matthias Well mit seiner stupenden Virtuosität, die selbst das Allerschwerste noch ganz leicht erscheinen lässt, und die Pianistin Lilian Akopova in den verwegensten Akkordkaskaden von Gershwin und Rosenblatt reißen das Publikum immer wieder zu Begeisterungsstürmen fort.
So wunderbar klingt ein Prestissimo, wenn zwei Musiker am Werke sind, die souverän über jeder Tempobezeichnung stehen. Auf den Gesichtern der beiden ist auch an fast unspielbaren Stellen noch ein Lächeln zu sehen, wo man eher eine Mimik der höchsten Konzentration erwarten würde.
Der Begriff „Rhythmissimo“ ist vielleicht in keinem Handbuch der Musik zu finden, aber für dieses Duo würde er passen. Beim Lousiana-Blues oder bei Rosenblatts großer „Phantasie“ mit Ausflügen in viele Genres von der U-Musik über Pop und Rock bis zur strengen klassischen Form geben Well und Apokova dem Ganzen mit kleinen, kaum bemerkbaren Rhythmus-Motiven bombenfesten Halt. Das wirkt fast, als wäre ein Schlagzeug mit im Spiel.
Solche perkussive Raffinesse , etwa durch knackige Pizzicato-Einlagen der Geige, trägt die wilden melodischen Eskapaden und die rasanten Läufe. Gelegentlich wählt Lilian Akopova einen reichlich kraftvollen Anschlag – aber diese ungewohnte Härte auf dem eher lyrisch temperierten Bösendorfer-Flügel hat hier ihre Berechtigung.
Nach der letzten Zugabe mit rasantesten ungarischen Klängen war das Bravissimo der Zuhörerfällig. Wenn schon ein Abend der Superlative, dann von beiden Seiten der Birdland-Bühne.
Donaukurier | Karl Leitner
Um gleich mit der Tür ins Haus zu fallen: Lilian Akopova und Matthias Well sind phantastische Musiker, eine technisch brillante Pianistin die eine, ein ebensolcher Geiger der andere. Wenn zwei Virtuosen ihrer Klasse aufeinandertreffen, wie im Birdland Jazzclub in Neuburg geschehen, ist das ein echtes Erlebnis. Tastenhexerin aus der Ukraine trifft auf Teufelsgeiger aus der Well-Familie, aus der einst ja auch die Biermösl-Blosn und die Wellküren hervorgingen.
Klassik und Jazz verabreden sich immer wieder mal im Birdland, turnusmäßig anlässlich der Neuburger Barockkonzerte, wenn Jazzer sich mit Werken Bachs oder Händels beschäftigen, oder auch zwischendurch, wenn etwa wie unlängst einer wie Dieter Ilg sich Maurice Ravel vorknöpft. Und nun also „Jazzissimo“ mit Akopova und Well, beide großartig, ja, grandios, und das, obwohl sie Jazz, in dem Blue Notes, eine spezielle Art der Tonbildung und vor allem die Improvisation relevant wären, im eigentlichen Sinne ja gar nicht spielen. Es geht an diesem Abend also nicht darum, spontan auf der Bühne Neues zu entwickeln, nicht darum, dass einer der Duo-Partner eine überraschende Idee hat und der andere sie aufgreift, interpretiert, kommentiert oder durch eine eigene ersetzt – also um das, was Jazz ausmacht – sondern darum, der Klassik zuzuordnende Werke, in deren Partituren der jeweilige Komponist Elemente des Jazz ganz bewusst hineingeschrieben hat, hörbar zu machen.
Also trifft man einmal mehr auf Maurice Ravel, diesmal auf dessen „Violin Sonata No. 2“, auf George Gershwin’s „My Man’s Gone Now“, auf Alexander Rosenblatt’s „Carmen Fantasy“ mit – wie zu erwarten – deutlichen Anleihen an Georges Bizet, aber auch an Astor Piazzolla und dessen „Nightclub“, Darius Michaud’s „Le Boeuf Sur le Toit“ und Vladislav Cojocaru’s „Kaleidoscope“. Erst ganz am Ende, in der zweiten Zugabe, wagen sich Akopova und Well – zum allerersten Mal, wie sie selber sagen – an eine „echte“ Jazzkomposition heran, nämlich an „Lullaby Of Birdland“ aus der Feder von George Shearing, die sie selbstverständlich genauso souverän meistern wie das gesamte Programm zuvor, nur dass es jetzt swingt, pulst und groovt.
Klassik und Jazz. Passt das wirklich zusammen? Natürlich, und zwar in unterschiedlichsten Konstellationen. Jazzer spielen Klassik und umgekehrt. Klassische Komponisten integrieren Jazzelemente in ihre Stücke und umgekehrt. Warum überhaupt diese Frage? Gilt nicht heute, in Hoch-Zeiten des genreübergreifenden Crossover, mehr denn je das Zitat des legendären Louis Armstrong: „Es gibt nur zwei Arten von Musik: gute und schlechte. Es kommt nicht darauf an, was du spielst, sondern wie du spielst“? Im Falle Akopova und Well ist das unbedingt zu unterschreiben. Man könnte den beiden vermutlich auch das Telefonbuch ihrer Heimatstadt Kiew vorlegen – oder das von München, wo Well vor 31 Jahren geboren wurde. Schriebe ein Komponist, dem Genres egal sind, dann noch die passenden Noten dazu, würden die beiden vermutlich auch daraus noch im Sinne Armstrongs gute, ach was, überragende Musik machen und einen Abend, den man so schnell nicht vergisst. Denn genau so einen erlebte das Publikum im ausverkauften Birdland, Jazz-Fans und Klassik-Freaks gemeinsam und unter Aufhebung jeglichen Fraktionszwangs.
Neuburger Rundschau | Reinhard Köchl
Holstein geht immer, zu jeder Jahreszeit, in fast jedem Kontext. Der mittlerweile 61-jährige, vielseitig begabte Klarinettist mit dem besonderen Bezug zu Neuburg ist seit langem ein natürlicher Garant für einen ausverkauften Hofapothekenkeller, weil er seinen Vortrag stets sympathisch und charmant präsentiert und so für ein ungetrübtes, entspannt-swingendes Jazz-Vergnügen sorgt. Dass Stephan Holsteins 2024er-Gastspiel im Birdland-Jazzclub da keine Ausnahme von der längst gängigen Regel darstellen muss, versteht sich beinahe von selbst. Keine freien Plätze mehr, viele alte Freunde da, die den Werdegang des ehemaligen Augsburgers seit den 1990er Jahren wohlwollend begleiten, beste Stimmung – und dann doch ein Novum, mit der keiner im Gewölbe so richtig gerechnet hat.
Bis dato hatten alle Stephan Holstein als veritablen Mainstream-Bläser in Erinnerung; gefällig, irgendwie berechenbar und, mit Verlaub, auch ein bisschen brav. Wer Ecken und Kanten suchte, der war bei ihm definitiv an der falschen Adresse. Nun jedoch präsentiert er zum ersten Mal seine neue Formation „Swing Shift“ (Swing-Schicht), und plötzlich scheinen sich alle alten Attribute im Laufe von hinreißenden zwei Stunden in Luft aufzulösen. Denn Holstein hat nun endlich die Musiker an seiner Seite, die zu ihm passen wie das Mundstück aufs Saxofon, hochkarätige Instrumentalisten und Freunde, die ihn nicht im Gefälligkeitsmodus zurücklassen, sondern wachrütteln. Zum einen der nach 20 Jahre in den USA zurückgekehrte Augsburger Pianist Heinz Frommeyer, der ein wohldosiertes Feuerwerk auf der Klaviatur abbrennt, jedes Solo extrem zurückhaltend beginnt, um dann unwiderstehlich Gang für Gang nach oben zu schalten bis zum Finale furioso. Und dann wären da vor allem Bassist Thomas Stabenow und Drummer Oliver Mewes, ein Rhythmusduo, wie es in dieser Exzellenz bis dato nur wenige im Hofapothekenkeller gab.
Stabenow nimmt diesmal die Rolle des Primus inter pares dieses verblüffenden Konzeptes ein, lässt große, satte Groove-Bäume wie weiland Ray Brown aus dem Boden wachsen, während Mewes, eigentlich als Oldtime-Schlagzeuger bei den „Echoes Of Swing“ bekannt, auch in modernerer Umgebung den Unterschied macht. Das hier ist knackiger und wirklich „echter“ Swing, hin und wieder garniert mit ein paar „Bomben“, so nennt man die knallenden Schläge auf die Hi-Hat. Und das andere? Halt auch irgendein Rhythmus… In dieser flirrenden Gemengelage ist die hinreißende Sängerin Titilayo Adedokun aus Nashville/Tennessee mit ihrer bestechenden Ausdruckskraft und Vielseitigkeit, etwa in Ellingtons „Sophisticated Lady“ oder „In The Wee Small Hours Of The Morning“ genau der richtige Farbtupfer.
Und Stephan Holstein? Der blüht regelrecht auf – dank seiner Swing-Schicht. An seinem Hauptinstrument, der Klarinette sowieso, wo er zum wiederholten Mal seine Ausnahmestellung unter Beweis stellt und launig den Unterschied zwischen der Bassklarinette (die er gleich mehrere Titel lang feinnervig spazieren führt) und einem Alphorn (das er natürlich nicht spielt!) erklärt. Richtig verblüffend ist allerdings seine längst überfällige Entpuppung am Tenorsaxofon, das bei ihm längst nicht mehr wie ein Allerweltsinstrument zum Fünf-Uhr-Tee klingt. Mit heißerem, angerautem, laszivem Ton konstruiert er leidenschaftliche Schussfahrten auf der „Route 66“, heizt bei Ben Websters „Holloring At The Watkins“, das er gleich in „Holloring At The Birdland“ umtauft, ein, dass die Leute schon vom bloßen Zuhören Schweißausbrüche bekommen, oder feuert bei „Bye Bye Blackbird“ ein testosteronhaltiges Solo nach dem anderen ab.
Holstein geht wirklich immer. Aber die Version des Jahres 2024 würde man am allerliebsten vakuumverpackt konservieren und bei Bedarf immer wieder hervorholen. Welch ein Genuss, welch eine Überraschung!
Donaukurier | Karl Leitner
Wer den Fall „Webster“ wieder aufrollt, beschäftigt sich – obwohl dessen Protagonist bereits 1973 verstorben ist – nicht mit einem Cold Case. Nein, der Tenorsaxofonist Ben Webster ist einer der großen Helden des Jazz überhaupt, seine Persönlichkeit und seine Musik hallen nach bis heute und es gibt nur ganz wenige Tenoristen, die nicht von ihm profitiert hätten.
Stephan Holstein und seine Band namens „Swing Shift“ verbeugen sich an diesem Konzertabend im Birdland vor ihm, obwohl sich weder Geburts- noch Todestag jähren, sondern einfach „weil ich ihn bewundere und seine Musik liebe“, wie Holstein zugibt. Wichtig ist, wie Webster spielte, was er spielte und mit wem er spielte. Berühmt wurde er für seinen warmen Ton, für sein Genie hinsichtlich der perfekten Melodiebildung und seine stets spürbare Nähe zum Blues. Das führte ihn, der auch Klavier und Klarinette spielte, mit Oscar Peterson und Roy Eldridge zusammen, machte ihn zum Star im Orchester von Duke Ellington und schließlich zu einer Ikone des Swing.
Stephan Holstein, der zusammen mit dem Pianisten Heinz Frommeyer und der höllisch tighten und an diesem Abend richtiggehend über sich hinaus wachsenden Rhythmusgruppe mit dem Kontrabassisten Thomas Stabenow und dem Schlagzeuger Oliver Mewes zu hören ist, ist auf Webster’s Spuren unterwegs, spielt am Tenorsaxofon, an der B- und der Bassklarinette in seinem Sinne, spürt seinem Sound nach und seinem Stil, spielt Stücke, die auch Webster spielte und öffnet für manchen in Saal vermutlich die im Grunde wegen Webster’s Omnipräsenz im Jazz nie verschlossene Tür zu einer längst vergangenen Welt, hinter der man sich trotz des zeitlichen Abstands augenblicklich pudelwohl fühlt.
Maßgeblich dazu bei trägt Titilayo Adedokun, die aus Nashville, Tennessee stammt, in Deutschland lebt und eine ganz tolle Stimme hat. Webster arbeitete seinerzeit immer wieder mit Sängerinnen zusammen, und so ist Miss Adedokun der ideale Gast in Holsteins Band. Ihre große Stärke sind die Balladen, allen voran „In The Wee Small Hours Of The Morning“, Gershwin’s „Embreacable You“ und Ellington’s „Sphisticated Lady“, die sie absolut auf den Punkt bringt, ausdrucksstark, technisch perfekt und mit genau der richtigen Dosis an Bühnenpräsenz, die es braucht, um ab dem ersten Ton im Mittelpunkt zu stehen und trotzdem gleichberechtigter Teil einer absolut souverän funktionierenden Band zu sein.
Ihre Versionen von „April In Paris“ und „Our Love Is Here To Stay“ werden zu weiteren Glanzpunkten des Abends und
die von Holstein im Andenken an „zwei gute Freunde“, nämlich an Helmut Nieberle und Willi Johanns, intonierten Stücke „Sunday“ und „Bye Bye Blackbird“ zu sehr persönlichen Farewells. Natürlich hätte das Konzert auch ohne die Verbeugung vor Ben Webster funktioniert. Mit dieser sehr überzeugend agierenden und absolut kompetenten Band kann im Grunde nichts schief gehen, denn sie interpretiert die alten Klassiker auf eine doch ziemlich moderne Art, die nichts mit purer Nostalgie zu tun hat, dafür aber um so mehr mit zeitgemäßem Umgang mit zeitloser Musik. Respekt an alle Beteiligten!
Neuburger Rundschau | Thomas Eder
Als im Mai 2015 das Trio des amerikanischen Bassisten Christian McBride das Publikum im Birdland Jazzclub beeindruckte, schwärmte ein Gast beim Hinausgehen, dass schon alleine der Klavierspieler den Eintritt wert war. Der junge Mann am Piano war Christian Sands der letztes Wochenende mit seinem Bruder Ryan Sands am Schlagzeug, dem Bassisten Jonathan Muir-Cotton und dem Gitarristen Max Light erstmals als Bandleader erneut einen nachhaltigen Eindruck in Neuburg hinterließ.
Als regelmäßiger Jazzkonzertbesucher könnte man meinen, schon jede Art von Pianospiel zu kennen. Es gibt die sanften Tastentupfer, die Akkordhämmerer, die klassisch Angehauchten, die Über-die-Tasten-Perler, Stride-Pianisten oder avantgardistische Tonfinder. Und es gibt Christian Sands, der mit seinem klaren, kraftvollen und herausfordernden Spiel eine unverwechselbare Note hinterließ und selbst kundige Besucher eines Besseren belehrte. Als die Band mit „I mean you“ von Thelonious Monk einstieg wurde sofort klar, dass hier eine Piano-Koryphäe der nächsten Generation auf der Bühne sitzt. Das Stück verwandelte sich alsbald in einen dicht gewobenen Soundteppich, in den man hineingezogen und durchgewirbelt wurde ohne zu wissen wohin die Reise führt. Für dieses Gefühl war vor allem der Rest der Combo verantwortlich. Eine Gitarre die sich einfach unbemerkt einmischte, dann aber unisono mit dem Bandleader in einem Höllentempo die komplizierte Rhythmik Monks punktgenau verdoppelte. Es war tatsächlich live und nicht einprogrammiert. Wahnsinn. Max Light fiel den ganzen Abend hindurch mit mitreißenden Soli auf und selbst seine klammheimliche Untermalung blieb keinesfalls unbemerkt. Und dann waren da noch ein äußerst kreativer Schlagzeuger – dieser Ideenreichtum muss in der Familie liegen – und ein körperlich tiefenentspannter Bassist, der aber musikalisch mit allen Wassern gewaschen war.
Leider hatte der Abend auch einen kleinen Haken. Der Funke wollte anfangs nicht so recht zünden. Trotz einmaliger Performance blieben die Zwischenapplause streckenweise aus, was wohl der etwas übertriebenen Lautstärke der Rhythmusformation geschuldet war. Diese Musik verlangt sicher Power und die vier jungen Männer erzeugten einen atemberaubenden Drive. So kam anfangs Christian Sands nicht richtig zur Geltung, wegen dessen Pianospiel der Großteil des Publikums gefühlt doch da war. Als aber dann in der Eigenkomposition „Crash“ der Mann am Piano alleine zu hören war, spürte man erstmals eine Welle des Glücks durch die Menge schwappen. Es war im zweiten Set bei Dave Brubecks „Strange Meadow Lark“ als die Mauer brach und die Band die letzten Zweifler auf ihre Seite zog und spätestens bei Sands hymnenhaften „Embracing Dawn“ am Höhepunkt ankam, bevor der Abend mit einem „Ragtime“ Monkschen Charakters endete. Zwei Zugaben später war dann wirklich Schluss.
Neuburger Rundschau | Reinhard Köchl
Einmal mehr geht es im Birdland-Jazzclub konventionell zu. Dort agiert ein klassisches Quartett, genauer gesagt: Piano, Saxofon, Bass, Schlagzeug. Kein innovativer Instrumentenmix, wie er heutzutage leider immer wieder aufpoppt und irgendwie zwanghaft die Quadratur des Kreises, oder besser: die Brücke zum verkaufsträchtigen Pop, sucht. Die vier Herren stehen, obwohl noch jüngeren Datums, mit beiden Beinen fest in der Tradition, folgen auch ein bisschen dem, was sie im Hochschulstudium mit auf den Weg bekommen haben. Aber was heißt schon „Tradition“? Es ist schlicht originärer Jazz, mit all den Zutaten, die ihm schon vor 70 Jahren jenen unverwechselbaren und einzigartigen Zauber verliehen haben, der Generationen überdauert.
Der nach wie vor markante Unterschied zu manchen Mitbewerbern besteht in der brillanten Qualität, die Andreas Feith, Lutz Häfner, Martin Gjakonovski und Silvio Morger an den Tag legen, einem Faktor, der im schnelllebigen 21. Jahrhundert gerne und manchmal auch verlässig vernachlässigt wird. Die auskomponierten, fein tariert wogenden Klavierfiguren von Bandleader Feith und das chromatisch abenteuerliche Tenorsaxofon vom Häfner verleihen der Band einen markant eigenen Charakter, der sie unter den Sandkörnern am deutschen Jazzstrand hervorstechen lässt. Und jeder Song erlaubt Rückschlüsse auf Quellen und Ziele. Da gibt es musikalische Verbeugungen vor dem wunderbaren Pianisten Fred Hersch („Fredʼs Tune“) mit seinem störrischen Swing, das warme, gleißende „Gospel“ (nomen est omen) sowie den leuchtenden Standard „Theme For Ernie“ von Fred Lacy, bei dem Lutz Häfner nicht nur wegen seines würdevoll restaurierten Johnny-Hodges-Tones einmal mehr die Frage aufwirft, warum er nach mehreren Jahrzehnten immer noch als Geheimtipp firmiert. Aus Häfners Feder stammt auch das raffinierte, wuchtig-hippelige „Three & Four“, ein ideales, maßgeschneidertes Opus für sein quecksilbriges Horn, das reihenweise klingende Leuchtpartikel ausstößt.
Die Stücke bleiben im Gedächtnis, weil sie zum einen die Qualität von modernen Standards besitzen und zum anderen exzellent interpretiert werden. Wer ein Rhythmustandem wie den grandiosen Bassisten Martin Gjakonovski mit seinem runden, omnipräsenten Ton und den facettenreichen, emphatischen Drummer Silvio Morger hinter sich weiß, bei dem kann sich in diesem geschmackvollen Mix aus schnellem und langsamem Walzer, Groove und vor allem Blues einfach fallen lassen.
Irgendwie bleibt das Ohr vor allem an zwei Themen hängen, bei denen der aus dem Saarland stammende 37-jährige Boss der Band unaufgeregt die Fäden zieht: Das noch namenlose, immer tiefer in den Sümpfen des heißen Südens grabende Stück unmittelbar nach der Pause („Wir suchen noch einen Titel. Irgendwas mit Blues“) und das düstere „Surviving Flowers“ kurz vor Schluss. Der virtuos und intelligent konstruierende Pianist baut mithilfe seiner Gefährten ein apokalyptisches Szenario voller verstörender Bilder auf, bei dem die nächste Gefahr schon hinter der Ecke zu lauern scheint. Das Klavier ist das kleine Blümlein, das aus dem Asphalt hervorlugt. Es hat überlebt. Genauso wie das akustische Jazz-Quartett. Wenn man es mit der Rezeptur der Combo von Andreas Feith serviert, dann könnte es sogar die Jazz-Formation der Zukunft sein!
Donaukurier | Karl Leitner
„Basst scho!“, so sagt man, sei für einen echten Franken das höchstmögliche Lob überhaupt. Andreas Feith, der die meiste Zeit über in Nürnberg lebt, weiß das. Nach dem Auftritt mit seinem Quartett im Birdland Jazzclub in Neuburg fällt das Urteil freilich um einiges euphorischer aus. „Exzellent“ oder „ausgezeichnet“ trifft es wohl eher.
Der Pianist und Komponist hat zusammen mit seinen Kollegen, dem ebenfalls aus Nürnberg stammenden Echo-Preisträger, Tenor- und Sopransaxofonisten Lutz Häfner, dem Kontrabassisten Martin Gjakonovski und dem Schlagzeuger Solvio Morger ein Album mit dem sonderbaren Titel „Dance Of The Scarabs“ (Tanz der Mistkäfer) auf den Markt gebracht, das er nun im Gewölbe unter der ehemaligen Hofapotheke vorstellt. Es geht dabei um zeitgenössischen Modern Jazz auf höchstem Niveau, interpretiert von einer Band, bei der anscheinend tatsächlich alles passt. Bis auf Fred Lacy’s „Theme For Earnie“ besteht das Repertoire nur aus Bandkompositionen, wobei Lutz Häfner für das knackige „Three And Four“ verantwortlich ist und Feith für den gesamten Rest.
„Funkensprühende Erzählkraft und beherzt zupackende Spielenergie“ wurde ihm bereits anlässlich der Veröffentlichung des Albums attestiert, und nun kann man in der Live-Situation nachvollziehen, was damit gemeint ist. Obwohl jeder der Musiker, allen voran die beiden Hauptsolisten an Saxofon und Piano, seine eigene Spielweise hat, dienen sie doch zusammen mit der absolut überragenden Backline mit Gjakonovski und Morger einem großen gemeinsamen Ganzen. Feith bewegt sich innerhalb seines von ihm selbst als Komponist abgesteckten Rahmens als durchaus wagemutiger, aber eben doch immer der melodischen Komponente verpflichteter Virtuose. Sein Partner am Saxofon rüttelt nach Art des Übervaters Coltrane immer wieder mal ungestüm am Gerüst der Stücke und wird so zum reizvollen Gegenpart zu Feith’s eher erzählendem Modus.
„Fred’s Tune“, Fred Hersch gewidmet, leitet den Abend ein, es folgen das am Anfang der Pandemie entstandene „Melancholia“ und „Encounter“, das Feith seinem Vorbild – dem zweiten neben Bill Evans – Brad Mehldau gewidmet hat, und schließlich „Surviving Flower“, das vom ersten Album gleichen Namens stammt. Ob schnelle Nummern oder einfühlsame Balladen wie „Redemption“ – in solistischer Hinsicht steigern sich beide durchaus mitunter in rasante Tempi hinein und demonstrieren, was sie auch in technischer Hinsicht auf dem Kasten haben. Und doch hat man nie das Gefühl, es käme auch nur eine Minute lang Hektik oder vordergründige Betriebsamkeit auf. Nein, keiner bricht aus, alle ziehen an einem Strang. Der Gesamtsound, das Gesamtfeeling, der Gesamthabitus dieser Combo, dieser „Band“ in wörtlichem Sinne, steht im Vordergrund. Und so werden die knapp zwei Stunden zu einem absolut runden Gesamtkunstwerk. Was das Ganze mit Mistkäfern zu tun hat, ist schnell erklärt. „Die Kompositionen war halt fertig und ich hatte noch keinen Titel für das Album,“ so Feith mit breiten Grinsen. – „Basst scho!“ Oder vielmehr: Was für ein herausragender Abend im Birdland.