Vincent Herring „Soul Chemistry“ | 03.02.2018

Neuburger Rundschau | Reinhard Köchl
 

Wer sein Vorurteil über Jazz wie eine Monstranz vor sich herträgt, wer ihn permanent als Kopfmusik mit Ungenießbarkeitsfaktor verunglimpft und ihm permanent bescheinigen will, er sei nicht mehr relevant, der fehlt an diesem Samstagabend im Neuburger „Birdland“. Stattdessen säumen wieder alle jene Unbelehrbaren den Keller unter der Hofapotheke, die noch an die Kraft der Saxofone, die Urwüchsigkeit des Groove und den Zauber einer echten Hookline glauben. Und das sind erstaunlicherweise immer noch eine ganze Menge.

Keineswegs nur solche, die sich wehmütig an die Zeit erinnern, als Jazzclubs noch subversive Orte im Underground waren, das Bier in der linken und die Kippe in der rechten Hand, die Augen geschlossen. Das Durchschnittsalter im einmal mehr ausverkauften Neuburger Jazzclub liegt beim Gastspiel des amerikanischen Altsaxofonisten Vincent Herring erstaunlich niedrig. Denn das Geheimrezept „Hardbop“ funktioniert auch 2018 noch prima. Innerhalb von maximal vier Takten verscheucht es im Nu Ermüdungstendenzen und die Furcht vor Klang-Experimenten. Stattdessen: Hüftkreisen und kopfwippende, rundum zufriedene Menschen, bei denen die einst von Art Blakey und Cannonball Adderley erprobten Ingredienzien Swing (bitte scharf und roh!), Funk, Soul, Blues, Polyrhythmen und Gospel in der stimmigen Mischung ihre volle Wirkung entfalten.

Doch zum Gelingen eines solch höllischen Hardbop-Gebräus, die der Protagonist selbst „Soul Chemistry“ nennt, braucht es zwingend einen erfahrenen Magier, der selbst als Kind mindestens einmal in diesen Zaubertrank gefallen sein muss. Vincent Herring, inzwischen mannhafte 53 Jahre jung, gastierte schon in den Anfangsjahren im Keller unter der Hofapotheke und hat sich hier längst eine Art Stammpublikum erspielt. Mit seinem singenden, voluminösen Ton, der sich wie eine Schleife um die jeweiligen Themen legt, mausert sich der Mann aus Hopkinsville/Kentucky immer mehr zum Bewahrer einer Lehre, die den Jazz auch für ein größeres Publikum als hoch attraktive, durchaus auch zeitgemäße Musikform am Leben erhält.

Hardbop in der Machart Herrings scheint zu jeder Zeit leicht und unkompliziert, bedarf aber einer enormen Komplexität und handwerklichen Brillanz. Etwa von dem wunderbar hippeligen Pianisten David Kikoski, der mit seiner unvergleichlich funkigen Farbigkeit dem Quartett seinen ganz eigenen Stempel aufdrückt. Einen enorm wichtigen Job absolvieren derweil Bassist Essiet Okon Essiet und der Schweizer Drummer Joris Dudli, ohne die es kaum dieses wohlige Gefühl in der Magengrube gäbe, das der Altsaxofonist und der Mann am Klavier lustvoll als Vehikel für ihre berauschenden Soli benutzen.

Vieles was einen Jazzclub früher auszeichnete muss heute keineswegs schlecht sein (bis auf das Rauchen!). Das Publikum klatscht und antwortet unmittelbar auf Vincent Herring, dessen sonore, knochentrockene Ansagen schon allein das Kommen lohnen. Es genießt einen auf offener Flamme gegrillten dreckigen Blues in C, feiert das Beatles-Cover „Norwegian Wood“, Freddie Hubbards rumpelndes „D Minor Mint“ oder den fluffigen Standard „Sweet And Lovely“. Als dritte Zugabe und zum Abschied widmet die Band David Newmans „Hard Times“ der Gegenwart in den USA. Charmanter und feinsinniger kann man eine politische Botschaft kaum in ein Jazzkonzert verpacken. Und gleichzeitig damit die Hoffnung nähren, dass es für beides eine Zukunft gibt.