Vincent Herring „Soul Chemistry“ | 03.02.2018

Donaukurier | Karl Leitner
 

Die Vorgängerband hieß “Earth Jazz”, die aktuelle nennt sich “Soul Chemistry”. Wer allein angesichts der Namensgebung an diesem Abend beim Konzert des Altsaxofonisten Vincent Herring und seines Quartetts im Neuburger Birdland Jazzclub statt entrückter oder gar verkopfter Musik eher Jazz mit Bodenhaftung erwartet, liegt genau richtig. Nicht umsonst wird Herring nachgesagt, er sei der legitime Nachfolger von Cannonball Adderly, und hätte wie jener damals unverkennbar eine Ader für Soul, Funk und Rhythm ’n’Blues.

Sein Ton ist mächtig, voluminös und trifft den Zuhörer direkt in der Magengegend, seine Improvisationen sind messerscharf und scheinen wie in Stein gemeißelt und als Bandchef legt er Wert darauf, dass bei den für diesen Abend ausgewählten Stücken erst einmal diese unvergleichlichen Hardbop-Themen ausgiebig vorgestellt werden, bevor er oder einer seiner Kollegen in die Improvisation einsteigt. Das erleichtert den Zugang, macht die Sache griffig. Von „Jazz aus dem Elfenbeinturm“ weit und breit keine Spur.

An dieser Stelle kommt die Band ins Spiel, die sich aus dem Schlagzeuger Joris Dudli und dem nigerianischen Kontrabassisten Essiet Essiet zusammensetzt und – was an diesem Abend entscheidend ist – aus dem Pianisten David Kikoski. Schon bei Hank Mobley’s „Pat’n’ Chat“ und Dudli’s „Art“ ganz zu Beginn des zweistündigen Konzerts wird deutlich, dass Kikoski gar nicht daran denkt, hier den Begleitmusiker abzugeben. Mit ganzer Kraft und schier unglaublichen Ideenreichtum schnappt er sich die Freiräume, die ihm Herring zugesteht, und legt los wie der Leibhaftige. Auch er akzeptiert die per definitionem festgelegte Bandbasis, tobt sich auf dieser Grundlage aber dermaßen aus, dass man mit dem Staunen kaum nachkommt. Wer diesem David Kikoski freie Hand lässt, erlebt sein blaues Wunder. Was immer ihm im Laufe des Abends durch den Kopf gehen mag, donnert er in die Tasten, macht er vermittels des Flügels hörbar. Verwegen, abenteuerlustig, ausgefuchst, technisch virtuos sowieso – ja, Kikoski ist eine Klasse für sich. Er quillt schier über vor Lust an der Improvisation. Es ist unglaublich, und wer’s nicht mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört hat, hat wahrlich etwas versäumt. Herring weiß natürlich, wie sein Kollege drauf ist und ist klug genug, ihn immer wieder in den Vordergrund zu rücken.

Und so spielt sich die Band – obwohl das Birdland-Konzert das erste der aktuellen Europa-Tournee ist und somit ein klein wenig Sand im Getriebe durchaus hinnehmbar wäre, vor allem in der zweiten Hälfte in einen wahren Rausch. Dass das Publikum das alles nicht kalt lässt, ist klar. Statt zweier Zugaben hätten es auch drei oder vier sein dürfen!