Es heißt, in der Person des aus Kentucky stammenden und in New York lebenden Altsaxofonisten Vincent Herring, Jahrgang 1964, lebten der Sound und die Stilistik des legendären Cannonball Adderly (1928 – 1975) fort. Da ist sicherlich viel Wahres dran. Als Dozent an verschiedenen Hochschulen gibt er sein Wissen seit Jahren an den Nachwuchs weiter. Mit dem japanischen Ausnahmetalent Erena Terakubo bringt er nun seine Meisterschülerin mit auf eine Europa-Tour, die ihn auch nach Neuburg in den Birdland Jazzclub führt.
In Kooperation mit dem Schweizer Schlagzeuger Joris Dudli, dem spanischen Kontrabassisten Ignasi Gonzales und Urs Hager aus Wien am Klavier sogen die beiden dafür, dass bereits nach fünf Minuten quasi die Hütte brennt und dass das auch über mehr als zwei Stunden so bleibt. Diese Band sorgt ab der ersten Sekunde für klare Verhältnisse und enttäuscht die Erwartung, die sie damit hervorruft, nämlich einen Abend mit heißer Musik, nicht einen Augenblick lang. Terakubo’s scharfer Ton, ihre rasend schnellen Läufe, ihre vor Energie übersprudelnden Kaskaden ergänzen sich hervorragender Weise mit dem wärmeren Sound Herrings, dessen abgeklärter Melodieführung und dessen eleganter Phrasierung. Hier ziehen vier Herren und eine Frau gemeinsam an einem Strang, brennen ein Feuerwerk an heißer Musik bei gleichzeitiger Coolness ab, das in den beiden Zugaben, dem Klassiker „Old Devil Moon“ und Herring’s „Dudli’s Dilemma“ seinen Höhepunkt findet. Momente wie diese, in denen die Musik ein Eigenleben entwickelt und eine Band anfängt, auf deren Schwingen wie von selbst einen halben Meter über dem Bühnenboden zu schweben, sind äußerst selten und sollten am besten nie enden.
Was sie natürlich trotzdem irgendwann tun. Herring hatte in Adderly einen idealen Lehrmeister und Terabuko hat ihren in Herring. Doch die beiden stehen ja nicht isoliert und vor allem mit sich selbst beschäftigt in der Szene des Hard Bop und des Soul Jazz, sondern sind und bleiben Teil von ihr, integrieren Freddie Hubbard’s „Sweet Sue“, Charly Parker’s „Repitition“, Victor Feldman’s „The Chant“ in ihr Programm, intonieren Hank Mobley’s „A Pack A Sack“ und die Ballade „Good Morning Heartache“, zeigen mit fanfarenartigen, feurigen Themen und mächtigen Saxofonstößen immer wieder ihre gemeinsame musikalische Visitenkarte vor.
Was überraschend ist: Bis auf eine Nummer ist kein einziges Stück aus einer von Herring’s Veröffentlichungen aus der letzten Zeit im Programm zu finden. Statt dessen zwei Standards, zwei Neukreationen – Terakubo’s „Little Girl Power“ ist für sie der ideale Anlass, auch noch den zweiten Turbo zu zünden – und selten Gehörtes aus der Feder namhafter Genre-Kollegen. So geht’s also auch. Man schaut sich in der umfangreichen Literatur um und stellt daraus zwei sorgfältig abgestimmte Sets zusammen, fliegt über den großen Teich, holt sich die geeigneten Musiker für eine kleine Tour mit an Bord – nach dem Gig im Birdland geht’s sofort in Luzern und dann in Paris weiter – und ab geht die Post. Was übrig bleibt, ist ein restlos begeistertes Publikum, die Gewissheit, wieder mal ein echtes Highlight im Birdland erlebt zu haben, der Plan bei vielen, das Programmangebot des Neuburger Jazzclubs künftig besonders genau abzuchecken und wiederzukommen. Anlass dazu bestünde in den nächsten Wochen wahrlich reichlich.