Vincent Herring Quintet | 26.05.1995

Neuburger Rundschau | Reinhard Köchl
 

Temperamentvoller, filigraner Post-Bop allerfeinster Qualität, dargebracht von einer erlesenen Ansammlung „neuer“ Stars der pulsierenden New Yorker Jazzszene, dazu ein vollbesetzter Keller unter der Hofapotheke – würdevoller hätte die an Höhepunkten keinesfalls arme Jubiläumssaison des Neuburger Birdland Jazzclubs wohl kaum enden können. Mit dem hochkarätig besetzten Quintett des Altsaxophonisten Vincent Herring war Impressario Manfred Rehm vor der großen Sommerpause in der Tat noch einmal der ganz große Wurf gelungen. Weltklasse quasi als Entschädigung für dreieinhalb lange enthaltsame (Jazz-) Monate bis Mitte September.

So muß es in etwa im berühmten New Yorker Club „Village Vanguard“, im „Blue Note“ oder im alten „Birdland“, dem Namenspatron der Neuburger Jazzoase, gewesen sein: fünf bis in die Zehenspitzen inspirierte Musiker boten dem aufmerksamen und begeisterungsfähigen Publikum eine brodelnde Show, bei der die Schweißperlen nicht nur den Hauptakteuren auf der Stirne standen. Für Vincent Herring, dieser Reinkarnation eines Cannonball Adderly, befindet sich in der Ottheinrichstadt sowieso schon längst der beste Jazzclub Europas. Eine Erkenntnis, die der ansonsten eher schweigsame Bandleader nicht nur in seinen bewegenden Schlußworten, sondern vor allem durch seine überdurchschnittlichen Leistungen während der knapp zweieinhalb Stunden zum Ausdruck brachte.

Ständig am oberen Level musizierend, kreierten er und seine Freunde mit Geist und Seele ein nahezu komplettes Gemälde des Jazz der heutigen Zeit: Rhythm & Blues, runderneuerten Hardbop, polymetrische Kombinationen, Soul-Jazz und Funk auf einer festen rhythmischen Basis, angereichert mit allerlei interessanten harmonischen oder modalen Experimenten, und das alles (bis auf einige Mikrophone) rein akustisch. Die wichtigste Erkenntnis dabei: es braucht nicht immer nur hochkomplizierte Hip-Hop-Samples oder Rap-Grooves, um den Nerv der Tanzwütigen zu treffen. Manchmal reicht ein Schlagzeuger mit exorbitanten Fähigkeiten.

In dem 35jährigen Carl Allen hatte Herring den augenblicklich vielleicht begehrtesten jungen Vertreter dieser Zunft mitgebracht. Nicht nur technische Perfektion machen sein unvergleichliches Spiel aus, sondern vor allem Geschmack, ein nachtwandlerisches Gefühl für die Begleitung der Solisten und die Fähigkeit, ununterbrochen zu improvisieren. Allen als das Zentrum jener Superband zu bezeichnen, wirkt angesicht seines außergewöhnlichen musikalischen Verständnisses keinesfalls übertrieben. Zusammen mit dem grundsoliden Bassisten Jesse Yusef Murphy bereitete er bei Titeln wie „Folklore“, „Theme for Dolores“, „Foutainhead“ oder „This I dig of you“ ein phantasievolles Rhythmusgerüst, auf dem sich die anderen Instrumente nach Herzenslust austoben konnten.

Die diszipliniert-verspielte Pianistin Reneé Rosnes mit zupackenden Blockakkorden und perlenden Läufen sowie der messerscharf, direkt und feurig phrasierende Herring am Alt- und Sopransaxophon mußten freilich tief in die Trickkiste greifen, um zumindest im zweiten Set aus dem Windschatten des brillanten Trompeters Scott Wendholt zu gelangen. Die Art, wie der junge Mann variantenreich sowohl als „high-note-blower“, als Lyriker und in punktgenauen Tutti-Chorusen mit kraftvollem Ton und überraschender Melodieführung begeisterte, warf die berechtigte Frage auf, warum nicht er, sondern der wesentlich unflexiblere Wynton Marsalis ständig als die Zukunftshoffnung an der Trompete gepriesen wird. Wendholts Doppelsoli mit Herring in der hinreißenden Zugabe „Blackbird“ gehörten jedenfalls zum absolut Besten, was 1995 im Birdlandkeller an Musik kredenzt wurde.