Vincent Herring Quartet | 27.10.2006

Neuburger Rundschau | Dr. Tobias Böcker
 

Wo sind eigentlich die Saxophonisten? Angesichts der Fülle auf den Markt geworfener CDs mit mehr oder minder begabten Sängerinnen scheint das Saxophon je und je aus dem Blickfeld zumindest der auf klingende Silberlinge fixierten Jazz-Öffentlichkeit zu entschwinden. Aber: Zum Glück gibt’s Livemusik, zum Glück den Birdland Jazzclub in Neuburg an der Donau, zum Glück solche Konzerte wie jenes des Vincent Herring Quartet.

Der 41jährige Power-Altist und ehemalige Straßenmusiker aus Kentucky mit dem „hard driving“ Sound lässt ahnen, wie es damals wohl war, als in der 52nd Street der Bebop erfunden wurde, dampfende, erregende, atemlose Musik, die sich mit schnellen Tempi und raffinierter Harmonik der Routine des Entertainments entgegen setzte und zu einer Stilwende führte, die von vielen Zeitgenossen bis heute als förmliche Wiedergeburt der kreativen Energie im Jazz empfunden wird. Nach wie vor entspringt aus diesem Strom der Tradition Spirit, Energie, Phantasie und Schaffenskraft. Vincent Herring wartet mit einer Variante des Neobop auf, die es wahrlich in sich hat, weit über eine Traditionspflege hinausgeht, die den Jazz als Americas classical music versteht.

Klassischer Bebop mischt sich mit Funk und rockigen Elementen zu einer energetischen Mischung, die den Musikern Raum zur kreativen Entfaltung gibt – im ersten Set freilich bisweilen an den Grenzen der dem Jazzkeller möglichen akustischen Kapazität. Vincent Herring ist ein sehr reflektierter Musiker, mit reichlich Humor gesegnet, in den Ansagen ein fast distanziert wirkender Entdecker der Langsamkeit, im Spiel auf den Punkt fit, hip, hitzig, leidenschaftlich, kämpferisch. Da tanzen die Finger nur so über die Klappen des Altsaxophons, verbinden sich Einflüsse von Charlie Parker und Cannonball Adderley zur eigenen souligen Tonsprache von höchst erquicklicher Frische. Mit Joris Dudli am Schlagzeug, Richie Goods an Kontra- und E-Bass sowie vor allem dem phänomenalen Anthony Wonsey an den Tasten von Bösendorfer und Keyboard hat sich Herring der Mittäterschaft dreier „Earth Jazz Agents“ versichert, die Tradition und Moderne mit Wucht und Klasse über die Rampe bringen, heftig, kräftig, deftig im ersten Set, luftig und duftig im zweiten. Welche Hälfte die bessere war, darüber mag der individuelle Geschmack entscheiden, das Konzert als Ganzes gab ein kräftigen Lebenszeichen des Saxophons und hochvirtuosen Neobop mit sehr bemerkenswerten Stilausflügen in Gefilde jenseits puristischer Strenge. Gut so!