Vijay Iyer Trio | 20.04.2012

Augsburger Allgemeine | Reinhard Köchl
 

Musik kann so einfach sein. Es braucht bloß zwei Töne für eine Bewegung. Der Mann am Bösendorfer greift sie mit der rechten Hand im Bassregister auf, modelliert eckige Kürzel aus der Asservatenkammer des Bebop und startet eine Reise durch die Geschichte des Pianos, die sich nie auf klassische Jazz-Strickmuster begrenzt.

Wenn Vijay Iyer mit der ihm eigenen mathematischen Eleganz im rappelvollen Neuburger „Birdland“ 88 Tasten durchmisst, dann bedient er weder die Erwartungshaltung der Swingfans, noch überschwemmt er das Auditorium mit einer Flut von Arabesken oder trauert der Kompromisslosigkeit des Freejazz hinterher. Sein Spiel greift weiter als das vieler Kollegen, gerade im Trio, dieser weitgehend erschöpften und ausgelaugten Besetzungsformen. Iyer weiß genau, dass man nicht frei spielen muss, um frei über das musikalische Material zu verfügen, und nicht historisierend, um sich in eine Traditionslinie zu stellen.

Der 40-Jährige ist anders. Ein Amerikaner, als Sohn indischer Einwanderer mit einem zweiten biografischen Bezugsrahmen aufgewachsen. Dieser beschränkt sich freilich kaum auf die bekannten Shakti-, Sitar- oder Tabla-Klischees, sondern definiert sich aus seiner weltläufigen Sicht. Denn Vijay Iyer zählt ohne Zweifel zu den letzten Universalgenies. Ein Autodidakt, der als einer der wichtigsten Pianisten der Gegenwart mit einem Grammy ausgezeichnet wurde und einen Bachelor in Mathematik, einen Master in Physik sowie einen interdisziplinären Doktortitel in Technologie und Geisteswissenschaften besitzt. Alles, was der Mann tut, fußt auf einem komplexen Gedankengebäude. Dass seine Musik dennoch keinen theoretischen Überbau braucht, um zu strahlen, gehört zu den ganz großen Stärken Iyers.

Er und Stephan Crump (Bass) und Marcus Gilmor (Drums) vollführen blitzschnelle Positionswechsel. Von der entwaffnenden Simplizität zu komplexen, rhythmischen Strukturen, von matt strahlenden Balladen zu spannenden, verschachtelten Konstruktionen wie „Little Pocket Size Demons“. Von Herbie Nichols oder Duke Ellington bis hin zu einer Pop-Ikone wie Michael Jackson („Human Nature“).

Blockakkorde hämmern, Harmonien zerfließen in perlende Melodieläufe, ein zackiges Gegeneinander von Bass und Akkord generiert einen unterschwelligen Puls, den Gilmore am Schlagzeug einem rockähnlichen Belastungstest unterzieht und damit den Raum schafft, in dem Iyer und Crump neue melodische Ideen entwickeln könen. Die Drei reihen jeden Song zu einem großen Patchwork aus Emotionen, Farben, Atmosphären aneinander. Ein gewaltiger Umgriff von Fats Waller, Bill Evans bis zu Strawinsky und Prokofjew. Düstere Harmonien klingen mit einem Mal leicht und elegant, Dissonanzen zaubern ein verklärtes Lächeln in die Gesichter der Zuhörer. Von den Ovationen nach diesem fulminanten Hörabenteuer ganz zu schweigen.