Vadim Neselovskyi – Anja Lechner | 20.01.2023

Donaukurier | Karl Leitner
 

Die erste Komposition des Abends ist ein geschundenes Stück Musik über ein geschundenes Volk. Die rechte Hand des Pianisten lässt einen Regen aus Glassplittern auf das Publikum niedergehen, die linke macht mit ungeheurer Wucht Detonationen hörbar. Und dazwischen wagt sich eine kleine volksliedhafte Melodie zaghaft an die Oberfläche.

Erst nach diesem Auftakt erfährt man die Wahrheit hinter dem, was man gerade erspürt und mit Bildern aus dem eigenen Kopfkino versehen hat. Das Stück heißt „Cry“ und thematisiert den Überfall Putins auf die Krim. Verantwortlich dafür und für den denkwürdigen Abend mit in dieser Form noch nie gehörter Musik sind Anja Lechner, die Cellistin von Weltruf, und der Pianist Vadim Neselovskyi aus dem ukrainischen Odessa.

Es geht um das stete Streben nach Freiheit in politischer, persönlicher und nicht zuletzt auch künstlerischer Hinsicht. Zwei Stunden später werden die beiden mit „The Renaissance Of Odesa“, ein in Noten gefasstes Friedensgebet aus Neselovskyi’s Odessa-Suite, den Abend beenden und dafür sorgen, dass sich mit dem Ende des Konzerts im Birdland inhaltlich der Kreis schließt. Was dazwischen liegt, ist ein einzigartiges Plädoyer für Offenheit, die Aufhebung von Begrenzungen, für die Freiheit als Basis menschenwürdigen Daseins.

Man hat natürlich sofort den Krieg in der Ukraine im Kopf, aber das griffe zu kurz. „Die Gedanken sind frei“, wie man bereits seit „Des Knaben Wunderhorn“ weiß, und das ist gut so. Denn wie sonst könnte man eigene, höchst individuelle Bilder entwickeln wie bei „Last Snow“ über einen Wintereinbruch im April, „Potemkin Stairs“ in Anlehnung an Sergej Eisenstein’s „Panzerkreuzer Potemkin“ oder dem Stück „Odesa Railway Station“, in dem man das metallene Quietschen von Waggonrädern auf Schienen, hektisches Fußgetrappel und die Vorfreude der Reisenden förmlich hören kann.

Wer heute ein Stück des Komponisten Valentin Silvestrov in Russland spielt spielt, wird sofort verhaftet. Weil der ursprünglich aus Kiew stammt. Lechner und Neselowskyi spielen ihn und auch Michail Alperin, sorgen dafür, dass sich im Verlauf des Abends immer mehr die Grenzen verwischen zwischen Klassik, ihrer eigentlichen Basis, Jazz, cinematografischen Elementen, Volksmusik und Avantgarde. Wenn es im Jazz die Abteilung „Free Jazz“ gibt, dann wäre dieses Konzert in manchen Phasen Anlass für die Einführung des Begriffs „Free New Classic“, in der jeglicher Ballast abgeworfen wird und nur noch der Grundgedanke der Komposition übrig bleibt.

Vadim NeseloWährend Lechner und Neselowskyi mit hingebungsvoller Zärtlichkeit, in vollkommener Übereinstimmung als Duo und in absolutem Einklang mit der sensationellen Akustik des Birdland-Gewölbes ihre Musik zelebrieren, herrscht absolute Stille. Es ist ein fast magischer Moment. Alle im Auditorium halten quasi den Atem an, keiner bewegt ein Glied. Sogar die sowieso nahezu unhörbare Klimaanlage ist kurzfristig abgeschaltet. Man wohnt einem Gesamtkunstwerk bei, das ist jedem klar, und einem Moment der Freiheit auch in künstlerischer Hinsicht. Dass nach dem letzten Ton ein Beifallssturm losbrechen würde, damit war zu rechnen. Dass der Abend zwei Zugaben zur Folge haben würde, irgendwie auch.