Tord Gustavsen Trio | 13.02.2003

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Man wäre fast geneigt, „typisch ECM“ zu sagen und hurtig die altbekannte Schublade zu öffnen, in die der Endverbraucher gerne die Musik des Gräfelfinger Edellabels hineinstopft. Schließlich lässt exakt dies eine Stück wieder einmal Bilder vor dem geistigen Auge entstehen. Einen ganzen Kurzfilm sogar, schwarzweiß. Fast zeitlupenartige Sequenzen. Ruhe, Lethargie, reduzierter Puls: „Where Breathing starts“ lautet der vielsagende Titel des Ohrenkinos.

Doch Tord Gustavsen ist anders als all die vielen introvertierten Schweiger aus dem hohen Norden. Der 33-jährige norwegische Pianist schüttet im Neuburger „Birdland“-Jazzclub mitnichten einen dickflüssigen Kübel voller Schwermut aus. Als das minimalistische Kleinod in der atemlosen Stille des Hofapothekenkellers langsam verblasst, geht ein Ruck durch den jungen Mann sowie seine Mitstreiter Jarle Vespestad (Drums) und Harald Johnsen (Kontrabass). „Reach out and touch it“ erklingt, und das noch Sekunden zuvor völlig auf die DNA der Musik reduzierte Trio beginnt plötzlich zu rotieren, zu grooven. Nicht ganz so heftig wie der Voodoo-Jazz des wilden Schweden Esbjörn Svensson. Vielmehr dezenter, ganz nah dran am Cool Jazz, am Gospel und auch an skandinavischen Volksweisen. Eine Art subtile Funkiness.

Und noch etwas weicht von der Norm klassischer Pianotrios ab: Gustavsen wählt anstatt eines pianistischen Ansatzes eher einen vokalistischen, was auch daran liegen mag, dass er bevorzugt mit Sängerinnen wie seiner Landsfrau Silje Nergaard arbeitet. Zwangsläufig mündet dies auch in eine gewisse Großzügigkeit im Umgang mit Noten. Der junge, höfliche Mann erzählt pausenlos mit seinen zehn Fingern. Er sprudelt wie ein Wasserfall, ohne erkennbares Ende, aber mit viel Sinn und Stil sowie jeder Menge unentdeckter Lösungen auf den 88 Tasten.

Wo soll man dieses Riesentalent mit seinen kongenialen Mitmusikern überhaupt einordnen? Wenn sich die drei gerade in einer Ecke kuschelig eingerichtet zu haben scheinen, erfolgt der unerwartete Ausbruch. Gustavson benutzt dazu verführerische Kompositionen von trügerischer Schlichtheit, die in ihrer clever austarierten Breitenwirkung leicht das Zeug zu Jazzstandards des 21. Jahrhunderts besitzen. Das Kinderlied „Edges of Happiness“ zum Beispiel oder „Colors Of Mercy“.

Während Bassist Johnsen den weiten Rahmen ungeheuer geschmackvoll, aber auch weitgehend alleine absteckt, vollzieht sich dagegen zwischen Pianist und Schlagzeuger ein intensiver Dialog. Rhythmus und Melodie, Trommelfelle und Elfenbein gehen eine seltene Zweckehe ein. Während Gustavsen schwelgt, zischelt, fächert und trippelt dessen Schulfreund Vespestad so unmittelbar dazu, als wäre er ein Teil des Klaviers.

Tord Gustavsen nennt dies ein bisschen umständlich die „dialektische Erotik der Improvisation“, und jeder, dem dies viel zu wissenschaftlich, zu theoretisch klingt, der beginnt exakt in diesem Moment zu begreifen, worum es dem Pianisten wirklich geht. Seine Lesart der Sinnenfreude setzt sich deutlich von musikalischen Erotomanen wie Prince oder Madonna ab. Kein Schaulaufen der Körpersäfte, sondern ein innerer, stiller Genuss. Etwas, das im Kopf stattfindet. Die intensivste Form der Erotik.