Tom Harrell Quintet | 15.04.2005

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Eine Salzsäule in schwarzer Lederjacke. Der Kopf mit den zerzausten, grauen Strubbelhaaren gesenkt, seltsam schief gestellt, regungslos, das Flügelhorn an sich gedrückt. Auf einmal geht ein Ruck durch die hagere Erscheinung, das Instrument fährt wie eine Zugbrücke hoch. Tom Harrell spielt.

Eine Ausnahmeerscheinung in jeder Hinsicht, wegen der Fans sogar Hunderte von Kilometern nach Neuburg in den „Birdland“-Jazzclub gefahren sind. Ein Genie in einem kranken Körper. Der 58-Jährige leidet seit Jahrzehnten an schwerer Schizophrenie, ist nur dank starker Medikamente spielfähig und braucht all seine Kraft zur Konzentration. Leben scheint erst dann in Harrell zu kommen, wenn er seiner Trompete – stets mit zusammengekniffenen Augen – intelligente und zutiefst berührende Töne entlockt. Große Worte oder eine sonst wie geartete Show gibt es im proppenvollen Hofapothekenkeller nicht. Nur atemlose Bewunderung.

Wie es dieser verschlossene, scheinbar gebrechliche Mann schafft, solche offene, kraftstrotzende Musik zu erzeugen, das weiß niemand ganz genau. Virtuos jongliert er mit dem Klangfarbenkasten seiner wunderbaren Band; ein kompaktes, aber doch heterogenes Gruppengebilde, wie es sich jeder Musiker eigentlich nur wünschen kann. Tom Harrell hat vier der besten jungen Ostküsten-Löwen zur Seite: der waghalsig in jeden Abgrund springende Tenorsaxofonist Jimmy Greene, das surrealistische Pianophänomen Danny Grissett, Ugonna Okegwo, dessen großer, flexibler Basston wie Amalgam zwischen den Extremen wirkt, sowie der hinreißende Drummer Neal Smith, dessen Arbeit aus einem nachdenklichen einen zutiefst leidenschaftlichen Abend werden lässt. Die Jungs können alles: Rumpelnde Shuffles, Bop-Stichflammen, orientalische Soundgirlanden, scharfen Downtown-Funk und rätselhaft-mystische Klanglandschaften, die auch vom frühen Gil Evans stammen könnten.

Dazwischen schimmert Harrells Flügelhorn wie ein Orchidee im Großstadtchaos. Nie narzistisch, dominant, laut oder marktschreierisch. Er erzählt Geschichten aus der Harmonik heraus und zugleich auch über ihr schwebend, wunderbare Geschichten, die ein Licht auf seine Gefühle, seine Empfindungen werfen. Alles was der New Yorker am Flügelhorn in Töne umsetzt, geschieht mit großer Übersicht und eindrucksvoller Risikobereitschaft. Harrells Chorusse sind ausbalancierte Gebilde mit stimmiger Architektur. Die Trompete ist sein wahres Gesicht, das über zwei Stunden voller Charme und Sensibilität strahlt. Mit ihr gelingt ihm immer wieder ein Befreiungsschlag aus dem inneren Gefängnis, der zu großer Kunst gerät.

Dass Tom Harrell mittlerweile zu den begnadetsten Jazzkomponisten der Gegenwart zählt (und sogar noch in Neuburg einen neuen Song schrieb, den er sich eilig vor dem Konzert kopieren ließ) liegt vermutlich auch an seinem besonderen Schicksal. Er kann ohne Umwege zu Papier bringen, was sein Herz rührt und sein Gehirn quält. Stücke wie „Radiat Moon“ oder „What will they think about Next“ sind gerade deshalb ein Plädoyer für authentische Musik, für das Leben.

Dieser Trompeter hört Dinge, die anderen auf ewig verschlossen bleiben. Er baut kühne Hängebrücken zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und spielt diesmal sogar im frenetisch applaudierenden „Birdland“ eine Zugabe, eine Besonderheit, die sich im Laufe seiner Karriere wirklich an zwei Händen abzählen lässt. Es wird ein aufgekratzter, fast übersprudelnder Abschiedsgruß, der kaum enden will. Am Schluss sinkt der Kopf wieder nach unten, verriegeln die Türen. Wenn Tom Harrell lächeln könnte, hätte er es jetzt sicher getan.