Tom Harrell „Infinity“ | 05.10.2019

Donaukurier | Karl Leitner
 

Am Anfang steht eine düstere, auf Mollakkorden basierende Rhythmusspur, darüber legt sich eine flächige, verhallte Gitarre. Nachdem der Groove sich des ganzen Körpers des Zuhörers bemächtigt hat, wird das griffige Thema vorgestellt, das schließlich den leuchtend strahlenden, glasklaren Trompetenlinien des Bandleaders Platz macht. Unermüdlich und exakt wie ein Uhrwerk gibt der Drummer mit unerbittlichen Triolen auf dem Becken den Puls vor, treibt das Stück voran, ist zusammen mit dem Kontrabass quasi der Humus, auf dem die Soli prächtig gedeihen. Nach ungefähr zehn Minuten löst sich die Spannung und es brandet tosender Applaus los.

Der Trompeter Tom Harrell ist wieder mal zu Gast im Neuburger Birdland Jazzclub. Er tritt dort seit Jahren relemäßig auf, immer wieder mit neuem Konzept, aber war er je vorher dermaßen mitreißend, ja, atemberaubend wie diesmal? Zur Zeit scheint er seine heimtückische Krankheit – Harrell leidet an einer speziellen Form von Schizophrenie – wirklich gut im Griff zu haben, glänzt mit unvergleichlichen Soli sowie auch als Komponist, der eigentliche Star aber ist speziell an diesem Abend ist diese Wahnsinnband, die er da aus den USA mitgebracht hat. Manchmal zieht sich Harrell sogar an den Bühnenrand zurück, um sie ganz bewusst ins Zentrum zu stellen.

Mark Turner am Tenorsaxofon, Ugonna Okegowo am Kontrabass, Jonathan Blake an den Drums und Charles Altura an der Gitarre: Jeder für sich ist ein echter Könner, zusammen sind sie eine Großmacht. Dass es Stellen im Konzert gibt, die, betrachtet man die klanglichen Grunddaten, sogar bisweilen dem Sound von U2 näher kommen als dem von Be Bop und Post Bop, liegt am Gitarristen, Bass und Schlagzeug sorgen für den rhythmischen Sog und Turner am Saxofon ist Harrells kongenialer Sparringspartner. Und das Ergebnis? Einfach nur großartig!

Die Band spielt vor der Pause lediglich vier Stücke, nach der Pause inklusive Zugabe fünf. Das sagt einiges über deren Länge aus. Alle stammen von Harrell selbst, sind auf seinen drei jüngsten Alben zu finden und man weiß schier nicht, wovon man mehr beeindruckt sein soll. Von den hinreißenden Themen, die man sich immer und immer wieder anhören möchte? Von dem ihnen innewohnenden Energiepotential, auf das sich die Band mit voller Wonne stürzt, woraus sie ihre unvergleichliche Schubkraft entwickelt? Oder von den darin vorgesehenen Freiräumen, die die Solisten inklusive Harrell selbst so überzeugend nutzen? Hier passt ganz einfach alles und die beiden Sets sind der pure Genuss.

„Tom Harrell im Birdland? War der nicht erst vor einem Jahr dort? Dann kann ich ihn mir ja diesmal schenken. Den kenne ich ja schon.“ – Völlig falsch! Harrell ist ein Paradebeispiel dafür, dass Jazz ein Genre ist, das sich in stetem Wandel befindet. Es gibt immer wieder neue Facetten zu entdecken. Unter anderem macht genau das seine Anziehungskraft aus.