Tim Berne „Decay“ | 19.11.2015

Donaukurier | Karl Leitner
 

Der Altsaxofonist und Komponist Tim Berne gibt als musikalische Einflüsse den Jazzmusiker Ornette Coleman, aber auch zeitgenössische Komponisten wie György Ligeti an. Angesichts des Konzerts mit seiner neuen Band „Decay“ im Neuburger Birdland im Rahmen des 5. Birdland Radio Jazz Festivals verwundert dieses Statement nicht, denn einen ureigenen und höchst unkonventionellen Ansatz wie jene verfolgt auch er.

Im Jazz wird ja üblicherweise auf einer rhythmischen Basis, auf einer harmonischen Grundlage improvisiert, oder ein Jazz-Standard wird neu interpretiert, wo-bei das Original mal mehr, mal weniger identifizierbar bleibt. Was aber geschieht, wenn sogar diese Basisfaktoren wegbrechen, das bislang verlässliche Fundament also mit Absicht dekonstruiert wird? Nun, dann bleiben Scherben, die ein Komponist, der die Herausforderung und das Wagnis liebt und eine Band hat, die bei diesem Vorhaben mitzieht, neu zusammensetzt. Genau das geschieht bei Berne und seinen kongenialen Partnern, dem Kontrabassisten Michael Formanek, dem Schlagzeuger Ches Smith und Ryan Ferreira an der elektrisch verstärkten und der Synth-Gitarre.

Bernes Stücke sind allesamt brandneu. Obwohl die letzte CD der Vorgänger- Band „Snakeoil“ noch nicht einmal ein Jahr alt ist, kommt deren Inhalt beim Birdland-Konzert schon nicht mehr vor. Ja, Berne ist ein äußerst umtriebiger Geist, stets auf der Suche nach Neuem. Die überraschend sich herausbildenden neuen Strukturen in „The Magnificent Seven“, die von der Gitarre und diversen Effektgeräten erzeugten Klanglandschaften nach Art der „Soundscapes“ von Ro-bert Fripp, die rhythmischen Offerten ans Publikum, die sich immer wieder scheinbar wie von selbst heraus kristalli-sieren aus einem akustischen Dickicht – das alles ist in seiner Komplexität zwar nicht unbedingt leicht konsumierbar, dafür aber immens spannend.

Wie sich die Musiker scheinbar voneinander entfernen, um sich dann wie zufällig wieder zu treffen, wie immer wieder Türen sich öffen und sich damit dem Zuhörer völlig neue Szenarien darbieten, wie sich –etwa bei „How Deep Is The Ocean“ nicht nur neue Klangwelten auftun, sondern zudem im Kopfdes Hörers plötzlich ein Film abzulaufen beginnt, das ist schon außergewöhnlich. Eigentlich, so denkt man, scheint an diesem Abend alles möglich, aber der Eindruck täuscht, denn Berne’s Stücke sind zwar immens vielschichtig, gehorchen aber doch einem Plan. Dass dieser Plan dermaßen verwegen, ja, abenteuerlich ist, macht die Einmaligkeit dieser großartigen Musik aus. Ein faszinierendes Erlebnis und ein ganz besonderes Konzert eines Musikers und Komponisten, der im zeitgenössischen Jazz ganz klar eine Sonderstellung einnimmt.