Tierney Sutton Quartet | 12.04.2002

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Endlich! Fast hätte der geneigte Dauergast des Neuburger „Birdland“-Jazzclubs angesichts des erschreckend konturlosen Haufens gackernder Junghühner, der dort in den vergangenen Monaten zum Mikrofon griff, die Hoffnung vollends fahren lassen. Da taucht nach den vielen höchstens gut aussehenden Stimmchen auf einmal Tierney Sutton im Keller unter der Hofapotheke auf, und alles, was sich zuvor in heftiger Schieflage nach unten bewegte, bekommt mit einem Mal wieder eine klar definierte, gerade Richtung.

Es wirkt wie eine Befreiung, wenn sich die hübsche Frau mit ihrer langen, blonden Mähne einfach nur auf einen Barhocker fallen lässt. Sie braucht keine einstudierten Posen, keine exaltierte Dramatik, kein plumpes Kokettieren mit weiblichen Attributen, um auf sich aufmerksam zu machen. Tierneys Waffen sind schlichterer, aber dafür um so effektiverer Natur. Die Lady aus Wisconsin stellt nicht sich selbst, sondern ausschließlich den Song in den Mittelpunkt, formt ihn behutsam wie ein tönernes Gefäß.

Trotzdem – oder gerade deshalb – strahlt Tierney Sutton während ihres traumhaften „Birdland“-Gastspiels heller, wärmer und auch weiblicher als jede ihrer Vorgängerinnen. Wenn überhaupt jemand die hohe Kunst des emotionalen Unterstatements beherrscht, dann sie. Selten verfügte eine Vokalistin über eine derart messerscharfe Intonation, eine punktgenauere Phrasierung, eine zielgerichtetere Aussage. Die Texte kommen gestochen klar, die geschmackvollen Scateinlagen bleiben zu jeder Sekunde im stilistischen Rahmen der Komposition.

Was Wunder auch bei einer Band, die mehr ist, als bloß ein gesichtsloses Begleittrio, das gnädig die musikalischen Stichworte liefern darf. Wenn der feinnervig schaufelnde Drummer Ray Brinker, der großtönende Bass-Zauberer Kevin Axt und der wunderbar swingende Pianist Tamir Hendelman interagieren, kreiselt alles wie in einem Glasperlenspiel. Eine faszinierende Symbiose aus Eleganz, Schwerelosigkeit und Schönheit, in der sich Tierney Sutton bewegen darf, wie ein Fisch im Wasser.

Etwa in der mystischen, schwebenden Fassung von „Spring is here“ oder dem tranceartigen „Blue in Green“, bei dem das Rubato die Wirkung eines magischen Strudels entfaltet. Wie die Sutton den Nat King Cole-Gassenhauer „Route 66“ mit Hilfe permanenter Tempowechsel sowie elektrisierender „Handarbeit“ von Ray Brinker in einen lasziv-schleppenden Blues verwandelt, das jagt einem Gänsehäute zuhauf über den ganzen Körper.

Ihr Repertoire: Eine Mischung aus Vanille, Schokolade und trocken Brot, bei dem freilich als erklärte Höhepunkte traumhafte Balladen wie „The Peacocks“ von Jimmy Rowles oder „Detour Ahead“ von Bill Evans herausgestellt werden müssen. Tierney Sutton schreitet hier, völlig allein gelassen und hauchzart von Hendelman oder Axt begleitet, die Sternen übersäte Milchstraße entlang und endet mit der Zugabe „We will meet again“, die einst ihr erklärtes Vorbild Evans schrieb, um den Selbstmord seines Bruders zu verarbeiten, nach der nichts mehr kommen kann. Der kollektiven Träne im Knopfloch muss sich in diesem Augenblick niemand mehr schämen.