The West Coast All Stars | 19.04.2002

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

In schlauen Lexika bezeichnen sie den in den 50er Jahren erfundenen West Coast Jazz gerne als pazifische Konterrevolution, als die coole Antwort der Ästheten aus Los Angeles auf die heißen, aggressiven Tempofexe aus New York. Alles Schablonenschnee von gestern!

2002 verläuft der stilistische Trennstrich längst nicht mehr zwischen der West- und der Ostküste, sondern irgendwo im Sande eines riesigen Musikmarkts, in dem es für den Jazz ganz allgemein gilt, sich gegen konkurrierende Einflüsse zu positionieren. Insofern besitzen die West Coast All Stars, deren patriotisch klingender Name sich bis in die Gegenwart des restlos ausverkauften „Birdland“-Jazzclubs Neuburg hinüber gerettet hat, durchaus noch eine echte Daseinsberechtigung.

Schon der Einstieg der Allstars – sechs schneidige, angegraute, kalifornische Gentlemen – hat etwas erfrischend Anderes. Zwar bauen die mit allen Wassern gewaschenen Haudegen gerne auf alte Tugenden wie Swing und Klang, verströmen dabei aber zu keiner Sekunde einen ranzig-nostalgischen oder gar musealen Mief. Vielmehr fliegen rasierklingenscharfe Bläsersätze durch „Relaxin` at Camarillo“ oder die „Yardbird Suite“ wie die Fire Brigade über den Ocean Boulevard, verströmen launige Kollektivimprovisationen die Ausgelassenheit einer Beachparty und hinterlassen zupackende Soli selbst bei Besuchern mit späterem Geburtsdatum den Eindruck, dass damals der Westküstenjazz aus einem höchst fruchtbaren Biotop von Emotion und Virtuosität emporwuchs.

Jeder der Allstars trug dazu sein ganz persönliches Scherflein bei. Das Rhythmustrio gießt das zarte Pflänzchen selbst heute noch mit einem Drive, wie er in dieser straffen Konsequenz absolut seinesgleichen sucht. Der wuchtig-subtile Bill Evans-Drummer Joe LaBarbera, der unglaublich runde, federnde Walkinglinien produzierende Bassist Chuck Berghofer und der sanft perlende Pianist Pete Jolly zimmern ein stabiles Geviert mit freier Fahrt nach allen Seiten für ihre Freunde an den Hörnern.

Welche Hörner! Plas Johnsons große, blaue Bluesblasen aus dem Tenorsax schnurren durchdringend wie ein satter Kater. Wenn Jay Thomas an der Trompete immer weiter Richtung Stratosphäre vorstößt, dort wo die Luft dünner wird, schimmert auch ein wenig das Rufende, Signalhafte, Plakative eines Maynard Ferguson durch. Und dann noch der Westcoastveteran Bud Shank, dessen rauer Altsaxofonton häufig die heiße Aura eines Vulkanausbruchs verströmt, aber gerade im dahin gleitenden „My funny Valentine“, jenem von Chet Baker am Strand ausgegrabenen Song-Juwel, einen überwältigenden Himmel voller Melancholie im Gemüt aufziehen lässt.

Shank serviert die Moll-Overtüre lediglich in Berghofers Bass-Gewand gehüllt, lässt LaBarbera einen schaufelnden Besen-Groove darunter schieben, und plötzlich glimmt ein mattes, aber konstantes Licht im Keller, das während des drei Stunden dauernden Mammutkonzertes nicht mehr verlöschen will. So intensiv und authentisch wie die untergehende Sonne in Malibu. Oder der gleißende Zauber, nicht nur der Westküste, sondern des gesamten amerikanischen Jazz.