Wie ein Auftritt doch Spuren hinterlassen kann! Als Vijay Iyer 2012 zum bislang letzten Mal im Neuburger Birdland seine Aufwartung machte, da hinterließ er zwar einen künstlerisch wertvollen, aber auch zwiespältigen – oder besser gesagt – einen sperrigen Eindruck. Der Pianist, Besitzer eines Bachelors in Mathematik, eines Masters in Physik, eines der Doktor der Technologie und Geisteswissenschaften, der Harvard-Professor und pianistische Autodidakt verstand sein Spiel eher als intellektuelle Herausforderung.
Mittlerweile sind zwölf Jahre ins Land gegangen und Iyer macht tatsächlich – Musik. Weil er mit 52 Jahren niemandem mehr etwas beweisen muss. Wie sich dies anfühlt und warum der Indo-Amerikaner längst zu den größten Tastenvirtuosen der Gegenwart gezählt werden muss, davon bekamen die Besucher im trotz des ungünstigen Sonntagtermins abermals bis auf den letzten Platz ausverkauften Hofapothekenkeller einen faszinierenden Eindruck. Er, die bereits im April in Neuburg gastierende Bassistin Linda May Han Oh sowie Drummer Jeremy Dutton bilden ein Trio, das man auch als Labor für Demokratie und Kommunikation betrachten könnte. Sie strukturieren ihre Themen wie Kunstwerke mit vielen Mikrofacetten, verknüpfen kristalline Fetzen zu einem wunderbaren Wandteppich aus Noten und Atmosphären und entwickeln eine völlig neue Form des klassischen Solos. Da steht nicht mehr eine oder einer im imaginären Spotlight, während die anderen sich eine Pause nehmen. Alles spielt weiter. Sie verstecken ihre Beiträge in einem Kokon aus Bassfäden, Klavierkreisen und Schlagzeugecken, wobei man manchmal tatsächlich überlegt, wer sich nun gerade mit einem dieser „versteckten Soli“ dran ist.
Da ist viel feinstoffliches Miteinander im Spiel. Am deutlichsten wird dies beim einzigen Standard des Abends, „Night And Day“. Gleich am Anfang setzen das Trio ein schwerblütiges Intro, in dem schnell klar wird, dass alle in jedem Moment auf Augenhöhe spielen, auch wenn Iyer die gar nicht mal so banale Akkordfolge des Stückes mit frappierenden Linien umspielt, die für sich stehen würden. Doch vom ersten Moment an holen der mühelos zwischen Snare und Becken, laut und leise balancierende Jeremy Dutton und die grandios ideenreiche Linda May Han Oh ihre Instrumente aus der Dienstleistungsrolle der Rhythmusgruppe, lösen sich aus der Struktur. Aber es bleiben Dialoge mit den jeweils beiden anderen. Da gibt es kein Egotripping, keine Show. Hierarchien sind erledigt, und so schaffen sie eine Form der ständigen Bewegung, aus der die Elemente wie in einem Mobile immer neue Konstellationen bilden, ohne aus der Balance zu geraten.
Ein Thema wie das flehende „Compassion“ appelliert an das Mitgefühl angesichts des aktuellen Leids auf dem Planeten, ein anderes wie „Overjoyed“ oder das pulsierende „Combat Breathing“ entwickeln eine zentrifugale Kraft, so als würde man immer tiefer in einen Sog aus Harmonien und Rhythmen hinabgezogen. Sie fügen gleich mehrere Stücken suitenartig zu einer Art improvisatorischen Opus aneinander. Einzige Ausnahme: „Kite“, die mit Händen greifbare Bestürzung in der Ballade, die Vijay Iyer dem in Gaza bei einem Bombenangriff ums Leben gekommenen palästinensischen Schriftsteller Refaat Alareer gewidmet hat.
Am Schluss der kurzweiligen, aber niemals oberflächlichen Performance ist der gesamte Keller im Bann der drei US-Musiker gefangen. Wohlgemerkt: nicht manipuliert. Denn Iyer, Oh und Dutton haben absolut eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass Musik bereichern, beglücken und erweitern kann, ohne gleich auf populistische Klischees zurückgreifen zu müssen. Man würde sich wirklich mehr solcher Konzerte wünschen.