The Dime Notes | 21.04.2023

Neuburger Rundschau | Reinhard Köchl
 

Gibt es wirklich bloß Schwarz oder Weiß, würdevolle Noten-Restauratoren oder populistische Leichenfledderer, und gar nichts dazwischen? Möglicherweise muss man aber doch nach der Wahrheit in den Räumen dahinter, davor und daneben suchen. Die eingefleischten Swing-Fans in den gesetzteren Jahren werden „The Dime Notes“ abgöttisch lieben, während die hartgesottenen Modernisten jüngeren Datums die tüttelige, beschauliche, brave, gefahrlose Art des Musizierens der vier smarten Engländer leidenschaftlich ablehnen. Wobei es für beide Positionen durchaus gute Argumente gäbe.

Bei ihrer Wiederkehr in den Birdland-Jazzclub nach 2019 bedienen Gitarrist Dave Kelbie, Klarinettist David Horniblow, Pianist Andrew Oliver und Bassist Louis Thomas vor allem die Nostalgiker unter den Jazzfans, und davon gibt es in und um Neuburg weiß Gott jede Menge. Das schlagzeuglose Quartett tut dies mit einem guten Gespür für Eleganz und Form, wobei es den Protagonisten ausnahmslos um die Musik aus jener Zeit geht, in welcher der Jazz in New Orleans seine ersten Gehversuche unternahm. Die dabei entstandenen Kinder trugen die Namen Blues, Charleston, Ragtime, Stomp oder Dixieland, erklangen vor allem in den Bars oder Bordellen und zeichneten sich neben ihrer chronisch guten Laune vor allem durch den Faktor „Tempo“ aus. Selbstredend drücken die vier Briten, ganz den Originalen huldigend, ebenfalls vehement aufs Gaspedal, wobei die Antriebsquellen den Bandmotors vom fröhlich honkenden Klavier Olivers zu den gehackten Viertelnoten auf der Gitarre von Kelbie (der nicht ganz ungewollt an den Drive des Sinti-Swing erinnert) bis zum sowieso immer walkenden – ach was: joggenden – Kontrabass von Thomas wechseln. Dazu bietet David Horniblow, der sich seine Sporen an der Seite des großen Chris Barber verdiente, mit seinem leicht grellen Klarinettenton so etwas wie den melodischen Keilriemen, mit dem die ganze Maschinerie für gute zwei Stunden auf Hochtouren läuft.

Die Stücke sind kurz und griffig, meist um die zwei bis drei Minuten. Von James P. Johnson, dem Vater des Charleston, präsentieren „The Dime Notes“ – was so viel bedeutet wie Zehn-Dollar Schein oder im musikalischen Sinn Zehntelnoten – dessen unfreiwillig ironischen Erkennungssong „Youʼve Got To Be Modernistic“, von W. C. Handy, der angeblich den Blues salonfähigmacht, fetzt „Sam“ im Schweinsgalopp durch den Hofapothekenkeller, während andere Titel von Johnny Doods oder Red Nicols ebenfalls förmlich vorbeifliegen. Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran! Wobei vor dem geistigen Auge unweigerlich ein Stummfilm mit Stan Laurel und Oliver Hardy oder Buster Keaton in Dauerschleife abläuft, mit Mülleimern über und Zaunlatten vor dem Kopf, wilden Verfolgungsjagden und Slapstick ohne Unterlass. Diese Band liefert den perfekten Soundtrack dazu. Ruhiger wird es erst bei der Zugabe „Sweet Sunstitute“ von Jelly Roll Morton, die lässig in die laue April-nacht hineinschlendert.

„The Dime Notes“ erweisen sich als routiniert aufeinander abgestimmte Swing- und Fußwipp-Maschine, wie geschaffen, um das brachliegende „Nervous-Leg-Syndrom“ zu reanimieren, solistisch eher reserviert, manchmal ein wenig zu perfekt, zu abgebrüht, zu professionell, zu mechanisch. Es mangelt weiß Gott nicht an handwerklichem Können, eher am Stallgeruch, an Authentizität, am „echten“ Jazzmoment, ganz egal, ob dieser nun im traditionellen oder im modernen Kontext passieren mag. Alles klappt wie am Schnürchen, ganz wie bei einer Jukebox, bei der man nur einen „Dime“ einwerfen und aufs Knöpfchen drücken braucht, um ein bestimmtes Liedchen hören zu können. Irgendwie sind die Jungs dann doch ziemlich schlaue, ziemlich populistische Notenarchäologen.