Hochvirtuos, hochpolitisch, hochunterhaltsam: So sollte es eigentlich sein, das perfekte Jazzkonzert. Weil die stimmige Kombination dieser drei Faktoren in der Vergangenheit leider allzu oft in Vergessenheit geriet, verliert diese Musikgattung mancherorts zunehmend an Bedeutung. Neuburg steht hier seit mehreren Jahrzehnten symbolisch wie das viel zitierte gallische Dorf. Oder besser: die Ausnahme einer bedauerlichen Regel. Im hiesigen „Birdland“ gibt es regelmäßig Events von hoher kultureller Relevanz. Und jetzt auch wieder ein schlicht perfektes Jazzkonzert in der Traumatmosphäre eines ausverkauften, restlos begeisterten Hofapothekenkellers.
Dabei durfte man dies beim Gastspiel der Clayton Brothers aus Los Angeles eigentlich nicht automatisch erwarten. Zwei honorige Gentleman – der eine, Jeff, am Altsaxofon, der andere, John, am Kontrabass – die sich mit drei Kollegen anschicken, den Zauber und das Feuer des Jazz, des Bebop, Hardbop und Blues zu entfachen, wie es nur eine originär amerikanische Band tun kann. Virtuosität scheint dabei auf jeden Fall programmiert. Jedem der fünf eilt in Fachkreisen ein bemerkenswerter Ruf voraus. Jeff Clayton, der sich längst aus dem Schatten des übermächtigen Alto-Gottes Charlie Parker gelöst hat, begeistert über zweieinhalb Stunden mit seiner direkten rhythmischen, gleichmäßig fließenden Phrasierung und symmetrischem Aufbau. John Clayton, im „richtigen“ Musikerleben einer der besten Komponisten und Big Band-Arrangeure, beweist in seinem „Zweitjob“ einmal mehr, wie elementar die vier tiefen Saiten den Rhythmus und das Gefüge einer auf Hochtouren laufenden Jazzcombo zusammenhalten. Bemerkenswert: Der ältere der beiden Brüder zelebriert ebenso genüsslich wie überdurchschnittlich oft das rare, weil ziemlich schwere Arco-Spiel mit dem Bogen und vibriert dabei mitunter wie eine Klapperschlange.
Dass die Claytons freilich noch Partner mit nach Neuburg bringen, die sich mindestens auf demselben schwindelerregend hohen Niveau bewegen, lässt den Abend zu einer Sternstunde aufsteigen. Trompeter Terell Stafford ist einer aus der aussterbenden Spezies der Highnote-Blower, der jedes Weizenglas auf den Tischen vor ihm problemlos kaputtblasen könnte – wenn er wollte. Seine Soli entfalten sich mit der Wucht einer akustischen Kavallerieattacke und lösen beim Publikum regelmäßig frenetischen Jubel aus. Die Bläsersection zusammen mit Jeff Clayton: ein Brett.
Zum Hochgenuss geraten auch die ideenreichen, bunten, faszinierend zwischen Stride und modalen Elementen mäandernden Pianosoli von Sullivan Fortner sowie das rollende, vor elektrisierenden Polyrhythmen nur so strotzende Schlagzeugspiel von Obed Calvaire. Alles swingt, groovt und pulst unaufhörlich. Jeder darf seinem persönlichen Helden ein Denkmal bauen: John für den Blues-Gitarristen B. B. King („Long Live The King“), Jeff sanft gleitend für den legendären Saxofonisten Benny Carter („Souvenir“), Calvaire für Drum-Ikone Elvin Jones („Wild Man“). Entertainment pur, und das auf allerhöchstem Niveau. Ein absolut seltenes Zusammentreffen zweier eigentlich unvereinbarer Faktoren.
Gerade in diesem Kontext der absoluten Glücksseligkeit passt ein angenehm ideologiefreies politisches Statement dann wie das Tüpfelchen auf das i. John Clayton gesteht, dass alle fünf derzeit „viel lieber hier in diesem wunderschönen Club, in Neuburg und in Deutschland“ wären, weil zuhause eben momentan eine ganz besondere Situation vorherrsche. Und jeder versteht die eindringliche Botschaft der Zugabe, die sich leidenschaftlich gegen die Waffengewalt in den Staaten richtet und den Namen einer in den USA populären Pistole trägt: „Saturday Night Special“. Das beste Konzert des bisherigen 60. Jubiläumsjahres!