In der Nachkriegsära begann der Krieg im Jazz. Er trug den blumigen Namen „Tenor Battle“, war eine explosive, testosteronhaltige, aggressive Schlacht auf offener Bühne zwischen gestandenen Männern, Alphatieren, die um nahezu jeden Preis beweisen wollten, dass nur sie die Besten waren: Komm her, ich blas dich an die Wand! Zum Glück gehören diese Zeiten längst der Vergangenheit an. Wenn sich heute zwei Tenorsaxofonisten wie der Österreicher Herwig Gradischnig und der Deutsche Claus Koch mit ihren Mitstreitern im Neuburger Birdland-Jazzclub begegnen, dann duellieren sie sich nicht mehr, sondern bestreiten ein emotionales Frage-Antwortspiel auf fast intellektueller Ebene. Dies nennen sie dann würdevoll „Council“, was so viel bedeutet wie Ratsversammlung oder Kollegium, religiös interpretiert könnte man es auch Konzil nennen. Nichts Feindseliges also, sondern etwas Vereinendes.
Im Hofapothekenkeller herrscht zwar eine originäre Atmosphäre und eine Stimmung, die an die besten Zeiten vor der Pandemie erinnert. Das Publikum beklatscht immer wieder begeistert jedes Solo, der Sound klingt ur-amerikanisch, fast so, als würde diese fünf Cats ihr dezente Jonglage mit Feuergirlanden irgendwo in den angesagten Clubs in Downtown New York abziehen. Aber zu keiner Phase geht es hier um Konkurrenz, darum den anderen auszustechen und sich selbst ins Spotlight zu drängen. Jeder der Musiker weiß, dass sich nur gemeinsam Berge versetzten lassen. Was ihnen im Laufe von wirklich beeindruckenden 120 Minuten auch mehrmals gelingt. Natürlich ist das hoffnungslos „old fashioned“, was Gradischnig, Koch, der hinreißende Pianist Claus Raible, der feine Bassist Giorgos Antoniou und der perfekt dosierende Drummer Xaver Hellmeier da vollführen, natürlich extrem „retro“. Aber Qualität bleibt immer auch ein zeitloses Gut.
Wenn die beiden goldenen Hörner unisono ein Thema intonieren, so verknoten sie ihre Töne zu einem neuen, größeren, mehrtönigen und vor allem komplementierenden Konstrukt. Der eine – Herwig Gradischnig – weiß mit geschwungenen, rhapsodierenden Linien voller unterschwelligem Bluesfeeling zu begeistern, der andere – Claus Koch – agiert in etwas höheren Lagen sowohl in Balladen wie „As Time Goes By“, aber auch im druckvollen Powerplay exakt und brillant. Vor allem: Jeder versucht, den anderen besser klingen zu lassen, ohne das eigene Licht unter den Scheffel zu stellen. Das Resultat ist ein kompakter, griffiger, stets mörderisch groovender Bandsound, der die Menschen im Hofapothekenkeller in jeder Sekunde des Konzertes erreicht und mitreißt.
Eigentlich fast logisch, bei solchen hochkarätigen Komplizen. Claus Raible, der es sich wieder mal auf einem Küchenstuhl vor dem Bösendorfer-Flügel bequem gemacht hat, genießt nicht nur in Neuburg längst Legendenstatus. Kein europäischer Pianist versteht es derart prägnant, den Zauber des Bebop mit modernen modalen Verzierungen und Monk-Zitaten zu versehen und sein Spiel gerade deswegen nie altbacken klingen zu lassen. Giorgos Antoniou am Bass sieht sich als Erbe der großen, eleganten Walking-Zupfer, während mit Xaver Xaver Hellmeier endlich mal ein Schlagzeuger dem Kellergewölbe seine Aufwartung macht, der trotz aller Wandelbarkeit seines funkensprühenden Spiels ein wirkliches Gefühl für den Raum entwickelt, vor allem, was die passende Lautstärke anbelangt.
So zünden die fünf Stufe um Stufe ihrer sorgsam ausgewählten Titel, von denen einige natürlich aus der Hochzeit der „Tenor-Battles“ stammen. „Montmartre“ von Dexter Gordon etwa, oder das feurige „East Of The Village“ von Hank Mobley. „Hey Lock“, eines der berühmten Schlachtenlieder von Eddie „Lockjaw“ Davies, könnte in der Neudeutung von Claus Koch und Herwig Gradischnig zu einer Hymne der Integration werden. Gleiches gilt auch für Gordons fiebriges „The Chase!“. Natürlich galoppieren diese Themen auch 2022, natürlich sprühen sie Funken, natürlich brennen sie an beiden Enden lichterloh vor Virtuosität und Spielfreude. Aber das gesamte Œuvre wirkt viel kompakter, auf den Punkt kommender und mit einem besonderen Augenmerk auf die Details ausgestattet, als bei den wilden Saxofon-Prügeleien Mitte des 20. Jahrhunderts. Was man nach einem Abend wie diesem als echten Gewinn bezeichnen kann.