Steve Swallow Quintet | 29.10.2011

Augsburger Allgemeine | Reinhard Köchl
 

Fühlt sich Carla Bley tatsächlich unwohl? Immer wieder fixiert sie im ausverkauften „Birdland“ beim 1. Radio Festival des Bayerischen Rundfunks ihr Notenblatt, hängt förmlich an den Registern der Hammond B3. „Ich hasse die Orgel“, wollte sie ein paar Stunden vorher mit verschmitztem Lächeln glauben machen. Dabei assoziiert die zerbrechlich wirkende 73-Jährige eigentlich jeder mit diesem Instrument. Dann und wann huscht ein suchender Blick in Richtung Steve Swallow, den lyrischsten E-Bassisten des Planenten, und ein kurzes Lächeln schimmert unter dem Pony ihrer Löwenmähne hervor.

Szenen einer Nicht-Ehe. Swallow und Bley kennen sich seit 1959 und sind seit 1985 ein Paar, privat wie musikalisch. Eine Heirat stand nie zur Debatte. Beide haben längst auch ohne Trauschein ihren eigenen Rhythmus gefunden und verkörpern ein im besten Wortsinn eingespieltes Team. Im vergangenen Jahr war Carla mit ihrer Band samt Bass spielendem Alter Ego im Neuburger Jazzclub zu Gast, 2011 darf nun Steve den Bandleader geben, während sich die wichtigste Frau in seinem Leben brav auf ihren Side-Woman-Job an der Orgel beschränkt.

Auf der Bühne erscheinen Steve Swallow und Carla Bley wie ein Ausdruck perfekter Zweisamkeit: beide schmal, von geradezu asketischer Gestalt einander eng verbunden im Medium der Musik, im Ersinnen von Klängen, die einander suchen, auseinander streben, zueinander finden. Gespräche, die in Swallows feinem Quartett in einem größeren Kreis stattfinden, aber nichtsdestotrotz intim bleiben. Diskurse über Improvisation, auch wenn diese nicht aus dem unmittelbaren Moment heraus entstehen, sondern auf Ideen basieren, die irgendwann des Bassisten Kopf entschlüpften. Suitenartige, mystische Traktate aus Kompositionen, bei denen die Band allenfalls Häppchen serviert („Grisly Business“), kriechend, schleppend, qualvoll verendend, bis Swallow das Ventil öffnet und aus der entschleunigten Bluesform mit „The Butler Did It“ einen rasanten Groove wachsen lässt.

Gitarrist Steve Cardenas gibt so etwas wie den eckigen, rockigen, kernigen Mini-Scofield, während sich der wunderbare Tenorsaxofonist Chris Cheek wie ein Mäusebussard auf das flirrende Arrangement stürzt und greift, was er gerade kriegen kann. Derweil schiebt der ansonsten höchst einfühlsame Mehldau-Drummer Jorge Rossy mit einer Konsequenz, dass einem um das alternde Pärchen Angst und Bange werden kann. Doch in Wahrheit sind es Swallow und Bley, die sowohl ihre Komplizen wie auch das Publikum immer wieder aus dem Labyrinth dieser faszinierenden Themen befreien.

Steve Swallow, dessen E-Bass im Duett mit Cardenas („Suitable For Framing“) wie eine Konzertgitarre klingt, wollte sich nie auf den schnöden Puls des Swing reduzieren lassen, sondern Musik gestalten wie ein Architekt. Gerade nach einem Konzert wie dem in Neuburg wird klar: Ohne seine Seelenverwandte Carla Bley, die exakt im richtigen Moment einen lang gezogenen Sonnenstrahl unter die melancholischen Akkordfolgen schiebt, sich aber sonst solistisch drosselt und ganz in den Dienst ihres Partners stellt, wären dessen fantastische Notenschlösser unweigerlich zum Einsturz verdammt. Die mithin kreativste Liaison des modernen Jazz.