Es besteht durchaus noch Hoffnung für den Jazz. Wenigstens ein Teil der nachwachsenden Musiker sucht heute endlich wieder das Risiko, verlässt die strikt vorgegebenen Routen zum Gipfel, um ohne Sicherung unbekannte Wege und eigene Grenzen auszuloten. Auch Stefon Harris aus New York, vielgelobter Silberstreif am kleinen Vibrafonhimmel, tut das und kalkuliert dabei von vorne herein jede Eventualität ein: entweder grandiose Höhenflüge oder die ernüchternde Landung auf dem harten Boden der Realität.
Dass sich beide Extreme mitunter gar in einem einzigen Konzert begegnen können, weiss inzwischen auch das Publikum im Neuburger „Birdland“-Jazzclub. Dort gastierte Harris jetzt zum zweiten Mal innerhalb eines halben Jahres, und versuchte das damals bei Klaus Doldinger entstandene Image des ebenso talentierten wie braven Wunderknaben durch einen fulimanten Kopfsprung in die schwerelose Welt der wild umherfliegenden Stile und Einflüsse des Jahres 2000 zu korrigieren. Ihm zur Seite ein Quartett mit überdeutlichen Identifikationssignalen: wir sind jung, stolz, hip und schwarz, Kinder Harlems, großgeworden auf den Straßen oder in den Übungskellern Brooklyns. Eine vierfache Akkumulation neuer farbiger Kreativität, die optisch wie instrumental markant zum Tragen kommt.
Drummer Terreon Gully etwa mit dem Kopftuchlook der Ghettoblaster-Generation und seinem exakten, federnden Beat, Bassist Tarus Mateen mit coolem Hütchen und glühenden Funk-Soul-Pizzicati sowie der abermals grandiose Piano-Shootingstar Orrin Evans mit wallender, roter Tunika und hart-perkussiven, verrückt-genialen, monkischen Soli. Dazwischen wirkt Stefon Harris fast wie ein Collegeboy, wenn er delikate Balladen wie „There`s No Greater Love“ mit weicher Harmonik wie durch ein Stromkabel fließen lässt, oder sich im „Feline Blues“ sorgsam um die Ausgestaltung warmer, melodischer Farbnuancen kümmert.
Aber Harris Sonderstellung erhellt sich weniger durch die Analyse, als vielmehr durch das vermittelte Gefühl. Der 26jährige interpretiert keineswegs; er filtert, abstrahiert und seziert die Themen locker, galant und ohne zwanghafte Neo-Konservatismus-Allüren. Überall brodelt die von ihm entfachte Energie in diesem feinen Netz aus Struktur und Rhythmus, ständig schwimmt und schwankt sein Fundament, auf dem nie sicher ist, was sicher scheint. Die vier „Black Boys“ kredenzen eine kunstvoll verschachtelte und verzahnte Improvisationskultur, die Aufrichtigkeit, Kreativität, Magie und Mysterium unter einem Dach vereint.
Und dann seine Vorliebe für Vabanque. Nicht nur, dass Harris die Nähe zu einem starken Pianisten sucht und dabei einkalkuliert, gnadenlos niedergespielt zu werden (was nicht geschah). Auch sein Mut, nach der Pause wie Ikarus mitten in die Sonne zu fliegen, die Ränder und Fransen des Mainstreams einfach hinter sich zu lassen und eine geschlagene halbe Stunde lang vogelfrei zu improvisieren, ist so herzerfrischend anders, als alles, was karrierebewusste Altersgenossen normalerweise abliefern. Auch wenn die abenteuerliche Reise durch Skalen, „Blackbird“ und Spaß zunehmend in konzeptlose Langeweile abglitt, wäre es grundfalsch, über solche Grenzgänge nur geschmäcklerisch die Nase zu rümpfen. Stefon Harris wird ganz bewusst zum Hasardeur, um den Jazz aus seiner Verkrampfung zu lösen. Und eines Tages wird er sein Ziel erreichen. Definitiv.