Die Hiobsbotschaft kommt einen Tag vor dem Konzert. Der 78-jährige Schlagzeuger Trevor Richards, vor langer Zeit Schüler von Zutty Singleton, dem legendären Drummer in Louis Armstrong ’s Hot Seven, und somit allein auf Grund seiner Vita einziges noch aktives Bindeglied zum Zeitalter des Oldtime Jazz, muss krankheitsbedingt absagen.
Das bedeutet für die South West Oldtime All Stars, dass sie für ihr Konzert im Audi Forum von jetzt auf gleich erstens ein komplett neues Programm zusammenstellen müssen und zweitens einen „Ersatzmann“ an den Becken und Trommeln brauchen. Wobei „Ersatzmann“ die völlig falsche Bezeichnung für Paul Hochstädter ist, der normalerweise bei der hr-Bigband unter Vertrag steht. Er gehört zu der Sorte von Musikern, denen man nur ein Notenblatt aufs Pult legen muss, und sie spielen ihren Part auch ohne großes vorheriges Üben absolut souverän und auf den Punkt. Was er im Audi Forum abliefert, ist einfach nur großartig. Ein Attribut, das aber ebenso auf seine Kollegen zutrifft. Auch Martin Auer (Trompete), Felix Fromm (Posaune), Gary Fuhrmann (Altsaxofon, Klarinette), Jürgen Zimmermann (Tenor- und Baritonsaxofon, Klarinette), Thomas Stabenow (Kontrabass) und Johannes von Ballestrem (Klavier) stellen sich mühelos auf die neue Situation ein und liefern dem Publikum ein zwar in dieser Ausrichtung unerwartetes, aber genau deswegen um so spannenderes Konzert.
Bereits die Eröffnungsnummer umreißt die Situation. „Things Ain’t What They Used To Be“, zu deutsch: „Die Dinge sind nicht das, was sie einmal waren“. Wenn etwas auf diesen Abend zutrifft, dann der Titel dieser Duke Ellington-Komposition. Um genau ihn wird es in den darauf folgenden knapp zwei Stunden gehen. Ellington hätte heuer 125. Geburtstag, was es gilt zu würdigen. Die Art und Weise, wie das vor sich geht, ist vom Konzept, der Musikauswahl und der Durchführung her einmalig. Man hatte einfach nur eine allseits bekannte Variante des „Oldtime Jazz“ mit vielen bekannten Melodien erwartet und bekam statt dessen vor der Pause die Welt-Uraufführung einer höchst originellen neunteiligen Bearbeitung von Tschaikowskys „Nussknacker Suite“, die seinerzeit Ellington für seine Zwecke nutzte, indem er die Beziehungen der einzelnen Teile untereinander komplett neu gestaltet hatte. Die Band liefert nun die „Bearbeitung der Bearbeitung“. Welch tolle Idee. Nach der Pause sind – was wiederum nicht zu erwarten war – zwar Originalnummern von Ellington an der Reihe, bis auf „Caravan“ und „Mood Indigo“ aber nicht dessen Hits, sondern sehr selten oder so gut wie nie zu hörendes Material auch aus dem Dunstkreis seiner Band.
Don Redman’s „Cherry“, Johnny Hodges‘ „Krum Elbow Blues“ und Ellington’s „Sponge Cake & Spinach“ und all die anderen werden zu echten Perlen, die erfreulicherweise rein gar nichts zu tun haben mit Nostalgie, Vintage oder Old School, weil sie vermutlich tatsächlich für viele im Auditorium neu oder zumindest nicht sonderlich bekannt sein dürften, es nach all der Zeit also immer noch viel Neues zu entdecken gilt, und weil sie so dermaßen spritzig und doch hochkonzentriert dargeboten werden. Mit dieser Band als Gratulanten feiert Ellington nur auf dem Papier 125. Geburtstag. In Wirklichkeit lebt er noch. Durch seine Musik. Und wie!