Simon Nabatov | 04.12.2004

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Ein echter Fall für die Weight Watchers: Seit seinem letzten Besuch in Neuburg vor sieben Jahren hat Simon Nabatov gut und gerne 50 Kilo zugelegt. Typ „Fleischberg“ mit Doppelkinn und Hang zu extremer Fettleibigkeit.

Wenn sich solch ein massiver, klobiger Mensch dann noch hinter einen Flügel zwängt, erwartet man gemeinhin eine ebenso unbewegliche Musik. Aber Nabatov straft alle von seinem Äußeren abgeleiteten Vorurteile Lügen. Gertenschlank kommen seine Läufe daher, behände, fast schwerelos meistert der 45-Jährige jedes im Weg stehende, melodische Hindernis. Blitzschnell wie ein Sprinter, sprungbereit in alle Richtungen, katzenartig, aggressiv, aber auch zärtlich, behutsam, voller Klangsinn umkränzt er die Themen, die diesmal überwiegend der brasilianischen Song-Literatur entliehen sind, aber stets diesen unverkennbar dunklen Hauch von zeitgenössischer Klassik verströmen.

Der in Köln lebende Russe ist ein schizophrenes Genie. Eines, das selbst bei einem eher bescheiden besuchten Konzert wie im Neuburger „Birdland“-Jazzclub spielt, als ginge es um sein Leben. Es sind diese Himmelsflüge, die Nabatov immer wieder selbst abbricht, indem er wütende Cluster aufs Elfenbein drischt, bevor er nur Sekundenbruchteile wieder zu watteweichen Glücksakkorden zurückfindet. Diese abrupten Wechsel zwischen Tonalität und Atonalität, Wohlbefinden und Angst, Tag und Nacht, mild und durchgeknallt, die einen irre machen, mitreißen und nie auch nur eine Sekunde die Konzentration verlieren lassen. Violá: Sie erleben ein Doppelkonzert am Solopiano. Es spielen Dr. Jekyll und Mr. Hyde.

Das fassungslose Publikum stolpert von einem hochinteressanten Albtraum in den nächsten. Nabatovs Bearbeitung von Cateano Veloso, von Antonio Carlos Jobims berühmten „Aguas de Marco“ oder „Chega de Saudade“ klingen, als würdest du den Karneval in Rio durch den Nebelschleier einer Fischvergiftung erleben. Manchmal hüpfen die Finger wie Frösche („Cliches“), manchmal hat es den Anschein, als schwebten sie wie fallende Blumen auf die Klaviatur herab. Der schwergewichtige Russe wuchert hemmungslos mit seinen Pfunden: beidhändige Virtuosität, ein souveräner Umgang mit kontrapunktischen Linien und mehrstimmigen Geflechten, donnernde Akkordballungen, zuckende Melodiefragmente, unter die Haut gehende, melodisch intensive Balladen, halsbrecherische Exkursionen über alle 88 Tasten und manchmal sogar darüber hinaus auf das Holz klopfend, vom dramatischen Donnergrollen in den tiefsten Lagen bis zu kristallinen, silbrig hellen oder beißend scharfen Figuren im höchsten Diskant.

Auch wenn er sich er sich mit dem ersten Stück nach der Pause ein wenig verfranst, nicht mehr aus seinem aberwitzigen Urwald aus Monk, Salsa und Strawinsky herausfindet: Was bleibt, ist der Eindruck von Urgewalt. Und eine gewagte, aber nach 120 atemberaubenden Minuten durchaus nachvollziehbare These: Wenn der Kerl 50 Kilo weniger auf den Rippen hätte, wäre er wahrscheinlich ein ganz anderer, ein stinknormaler Jazzmusiker. So aber ist er Simon Nabatov. Der ganz normale pianistische Wahnsinn.