Sogar abstrakte Bilder haben in der Regel einen Rahmen. Der Betrachter darf den Inhalt frei interpretieren, der Rahmen aber soll schon zu dem passen, was auf dem Bild zu sehen ist. So ähnlich ist das auch mit der Musik des Samuel Blaser Trios. Nicht umsonst stehen Notenpulte mit Blättern auf der Bühne, als die Band im Birdland auftritt und dort ihre Europatournee eröffnet. „Wir spielen schon richtige Stücke“, sagt Schlagzeuger Peter Bruun aus Kopenhagen, „aber was im Mittelteil passiert, ist völlig offen“.
Offen, ja, und deswegen sind den ganzen Abend für Assoziationen des Publikums und Bilder im Kopf Tür und Tor geöffnet. Nun gut, wenn ein Stück „L’été“, ein anderes „Squirrel“ oder „La Vie Sans Toi“ heißt, wird man durchaus in eine gewisse Richtung geführt, aber wenn Bandchef Samuel Glaser, der Posaunist aus La Chaux-de Fonds im Schweizer Jura, die Titel nicht ansagt, man also nicht weiß, welcher Art Asso-ziation bereits hinter dem Akt des Komponierens steckte, sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt. Der Schreiber dieser Zeilen etwa meinte, kurz vor dem Ende des ersten Sets Spuren von „Amazing Grace“ wahrgenommen zu haben, um im Pausengespräch zu erfahren, dass er da wohl der einzige war.
Blaser ist einer der wichtigsten Posaunisten der europäischen Improvisationsszene. Er vergrößert ständig den Einsatzbereich seines Instruments, ohne dessen klangliche Identität zu verwässern. Mangelsdorff’sche Growls und den von jenem seinerzeit eingeführten Einsatz der Stimme baut er ebenso in sein Spiel ein wie stilistische Einflüsse jeglicher Couleur. Als musikalischer Freigeist fühlt er sich von jeder Art Musik magisch angezogen. Das gilt auch für seine Partner, und so kann die Band „marschieren, taumeln, grooven, köcheln oder aufflammen, je nach den Bedürfnissen des Augenblicks“, wie ein Kritiker schrieb.
Sein Partner ist neben dem unberechenbaren, permanenten Unruheherd Bruun am Schlagzeug Gitarrist Marc Ducret aus Paris, mit dem Blaser schon viele Projekte verwirklicht hat. Bei ihm ist nicht nur interessant, was und wie er spielt, sondern auch, welchen Sound er dafür verwendet. Das elektrisch verstärkte Instrument plus diverse Effektgeräte und Pedale bieten ihm zahllose Möglichkeiten. Ducret ist Finger- und Flatpicker, tappt und slappt, bringt das Bottleneck zum Einsatz. In manchen Passagen gehen einem als Zuhörer Robert Fripp’s vor allem bei Livekonzerten gerne auftauchenden „Improvs“ durch den Kopf, wobei natürlich auch dies assoziativ ist.
Obwohl man Blaser und seine Kollegen sicherlich als Freigeister bezeichnen darf, verfolgen sie eine Absicht, nämlich die, frei fließende Klangströme zu erzeugen und dabei kompositorische Raffinesse, abstrakte Improvisationen und an der Basis orientierte Grooves höchst kunstvoll miteinander zu verquicken. Das Programmheft des Birdland spricht von einem „Klangversuchslaboratorium voller Überraschungen“ und trifft damit absolut den Kern. Ausschnitte dieses höchst außergewöhnlichen Konzerts – wie auch aller anderen des Birdland Radio Jazz Festivals – sind am kommenden Samstag, 19. November, im Rahmen der vierstündigen Liveübertragung aus dem Birdland ab 22.05 Uhr auf Bayern 4 Klassik und anschließend ab 0.05 Uhr auf BR 2 zu hören.