Behaglichkeit entsteht durch Gegensätze. Während draußen ein handfester Winterorkan mit Windstärke zehn um die Häuser tobt und Schnee- und Graupelschauer Bayern in einen relativ ungastlichen Ort verwandeln, vibriert drinnen sanft die Luft.
Dort, im Neuburger „Birdland“-Jazzclub, begeben sich, einer längst liebgewonnenen Tradition folgend, eine Menge durchfrorener Menschen kurz vor Weihnachten auf einen wunderbar stimmungsvollen, niemals klischeehaften, knapp zweistündigen Exkurs in die Welt der Sambas, Bossa, Rumbas. Der Karlsruher Gitarrist Martin Müller betätigt sich als musikalischer Fremdenführer und bringt einen schon nach wenigen Takten dazu, im Geiste die Flugpläne nach Rio oder Belo Horizonte zu durchforsten, um der grimmigen Kälte zu entfliehen.
Es geht in die „Rua Baden Powell“, eine Straße, die Müller bei einem Gastspiel auf der Insel Madeira gleich um die Ecke seines Hotels entdeckte. Obwohl sie eigentlich dem Namensvetter des berühmten brasilianischen Gitarristen, dem Begründer der britischen Pfadfinderbewegung gewidmet ist, entzündete das gekachelte Namensschild einen kreativen Funken. Nun stehen sie alle Spalier, um dem ausverkauften Hofapothekenkeller den Unterschied aufzuzeigen: Neben Baden Powell noch Antonio Carlos Jobim, Egberto Gismonti, Milton Nascimento, Raphael Rabello, Geraldo Pereira. Die ganze Vielschichtigkeit der brasilianischen Musik, die weit mehr zu bieten hat, als aufgesetzte Heiterkeit, fröhliches Rasseln und hüftschwingende Mädchen.
Eine echte Dame zum Beispiel, die in der Tat entwaffnend schön singen kann und mit jeder Silbe den atemlosen Zuhörern ihre Alma Brasileira fühlen lässt: Viviane de Farias. Wenn sie die Liebe in „Samba em Preludio“ thematisiert, dann ist dies nicht einfach nur das Absingen eines bestimmten Textes. Viviane de Farias wird eins mit ihrer Geschichte, schwebt voller Anmut und Anteilnahme durch die Phasen einer unglücklichen Beziehungskiste. Ein Seelenstriptease in Moll. Dazu knarzt der Kontrabass von Martin Bodenseh wie ein Geisterschiff, die Schellen des quirligen Perkussionisten Mauro Martins könnten auch Sträflingsketten sein, Müllers dezente akustische Gitarre kriecht hinter einem Tränenschleier hervor, sanft umweht von Jochen Feuchts heißem Tenorsaxofonhauch.
Müller mag keine Postkarten vom Zuckerhut. Sein Konzept setzt weniger auf Wiedererkennungseffekte. Es geht um Authentizität, um die entlegenen, vom Tourismus noch unberührten Winkel brasilianischer Notenwelten. Des Gitarristen kleiner, trickreicher Alleingang unmittelbar nach der Pause oder das Duo mit Feucht, bei dem beide Gismontis „Aqua e Vino“ wie ein buntes Herbstblatt trudeln und wieder aufsteigen lassen, zeugen von großem Mut und enormer Abenteuerlust.
Dass es am Ende doch ein paar populäre Kracher wie „Manha de Carneval“ oder die „One Note Samba“ gibt, dass Feucht sein Tenorsaxofon ganz offensichtlich in Richtung von Stan Getz` legendär-süffigen Ipanima-Gestus dreht und dass Viviane de Farias geschickt das Jazzelement Scat in ihr Repertoire einbaut, ist mitnichten ein Widerspruch. Nach dem erbaulichen Kurztrip spürt jeder im Keller, dass exakt dieser Mix die Menschen inwendig wie von außen her wärmt. Bei einem Sauwetter wie diesem weiß Gott keine Selbstverständlichkeit.