Natürlich die Musik: Ron Carter! Einer der letzten Überlebenden einer immer mehr verblassenden, glorreichen Zeit, ein „Jazzosaurier“. Muss man unbedingt hin. Immerhin ist der Mann ja schon 84. Aber da ist auch noch etwas anderes: Auf der Bühne des trotz des Wochentermins seit langem wieder mal pumpvollen Neuburger Birdland-Jazzclubs stehen vier Musiker, die während des gesamten zweieinhalbstündigen Konzertes einen Mund-Nasen-Schutz tragen. Nur Tenorsaxofonist Jimmy Greene nimmt seine Maske für seine Einsätze kurzzeitig ab. So etwas gab es hier und wahrscheinlich in Deutschland noch nie.
Carter, Greene, der Pianist Donald Vega und der Schlagzeuger Payton Crossley tun dies – wie sie später erklären – aus Respekt vor dem Publikum, vermutlich aber auch, weil sie die höchst unterschiedlichen Auslegungen der Corona-Regeln auf ihrer derzeit laufenden Europatournee verunsichern: An einem Abend penibel streng, am anderen wieder erschreckend sorglos. Während hierzulande Stars wie Nena der Verbreitung des Virus bei ihren Konzerten trotzig querdenkend alle Türen öffnen, zeigen uns ausgerechnet vier farbige Amerikaner, wie es geht. In ihrer Heimat kommt das Tragen einer Maske sowieso einem politischen Statement gleich: Die es tun, sympathisieren mit den Demokraten, die es ablehnen, halten den Republikanern und Trump die Treue.
Es passt zur edlen Haltung von Ron Carter, dieser Instanz am Kontrabass, auch in dieser Frage klare Kante zu zeigen. Der Gentleman aus Downtown Manhattan, der an der Seite von Miles Davis selbst zu Ruhm und Ehre gelangte und durch seine Mitwirkung an weit mehr als 2200 Alben heute als der meist aufgenommene Bassist der Welt gilt, macht auch nach über sechs Jahrzehnten im Geschäft und an diesem ganz speziellen Abend im Birdland mehr, als bloß seinen Job. Er zelebriert nach wie vor jede Note, genießt das fließende, organische Zusammenspiel mit seiner Band und bekennt aufrichtig, dass er sich freue, wieder in dem atmosphärischen Club in Neuburg, in dem er schon mehrere Male auftrat, und vor dessen Fans spielen zu dürfen: „We missed you!“ Spontane Antwort aus dem Publikum: „We missed you, too!“
Die Wiederhörensfreude mündet in einer – fast schon von ihm erwarteten – hinreißenden Performance. Da sind die feinen Zwiegespräche, die er mit seinem Pianisten oder seinem Drummer führt, die behutsam entfalteten. nebelverhangenen Balladen wie „My Funny Valentine“ und sein wie ein kunstvolles Stuckgemälde gestaltetes Solo über das Thema von „You Are My Sunshine“. Faszinierend, wie behutsam die Saiten vibrieren. Punktgenauer Ton, bedingungslos klar. Und leise. Die längsten Finger des Jazz tanzen scheinbar schwerelos auf dem Holzsteg entlang; sehnig, filigran und elegant. So wie Ron Carter klingt in der Tat kein anderer. Sein Kontrabass fabriziert häufig einen knackigen Groove wie ein E-Bass, und doch ist es immer klar definierbar der Sound eines klassischen Instruments. Irgendwann schwillt das Geräusch unter den Skorpion ähnlichen Händen unwiderstehlich an. Payton Crossley streichelt dazu dezent die Becken, und Jimmy Greene sowie Pianist Donald Vega schieben den Chorus auf die fein gehäkelte Rhythmusdecke.
Die meisten Stücke strukturiert das Quartett im Stil von Suiten. Keine Pausen, nur leichte Veränderungen bei den Tempi und Tonarten, die eine andere Atmosphäre einziehen und den Beginn eines neuen Songs erkennen lassen. Die „Sätze“ heißen „Cominando“, eine knisternde Hardbop-Struktur, die den Geist der 1960er Jahre innerhalb weniger Takte ins 21. Jahrhundert transportiert, „Joshua“, seine Reminiszenz an Miles, den alten Freund und Partner oder „Mr. Bow Tie“. Carters Puls gibt stets die Richtung vor, würde aber niemals die Fantasie der Zuhörer, die Wucht des Momentums durch einen Ego-Anfall zerstören. Auch an einem Abend wie diesem, der mit der herrlichen Zugaben-Danksagung „You And The Night And The Music“ endet, fällt es einem zum tausendsten Mal auf, dass es eigentlich der lange, drahtige Kerl war, der den Kontrabass endgültig aus der Schmuddelecke des Hintergrundinstruments hervorzerrte und ihn ins Zentrum der Bühne rückte. Jeder seiner Töne ist ein Statement für sich, wohl ausgesucht und etwas ganz Besonderes. Zusammen sind sie eine machtvolle Botschaft. Die Musik brummelt in den Köpfen weiter, selbst wenn Ron Carter keine Töne mehr erzeugt und nur noch seine sehnigen Finger spielerisch in der Luft bewegt. Dieser Zauber funktioniert immer und immer wieder – ob mit oder ohne Maske.