Atem holen, anschnallen und los geht die musikalische Weltreise. Kapitän Carter und seine Crew begrüßen sie zu einem Rundflug, der in gut 50 Minuten nahezu alles bietet, was Herz und Kopf jenseits des Trivialen wünschen. Ein Trip mit fließenden Übergängen von einer Dimension zur anderen, verschmelzenden Zeitzonen, Zwischenstopps, Besichtigungen, Gedanken. Alle Grenzen sind aufgehoben, das Solo als ehedem herausragendes Ereignis eines Jazzkonzertes hat längst seine Bedeutung verloren. Es geht nur noch um Ausdruck, Form, eine große Linie der Ästhetik.
Regungslos bestaunt das Publikum im restlos ausverkauften Neuburger „Birdland“-Jazzclub die Ziele, die der Bassist Ron Carter da mit seinem Quartett ansteuert. Ein fast freejazzartiger Auftakt, dann wild durcheinander springende Salsa-Kreisel, bei denen sich das Tempo vielleicht zehn Mal verändert, aber der Fuß trotzdem nie ruhig bleiben kann. Das skurrile Intermezzo des Perkussionisten Steve Kroon, der einem Bambusrohr Töne entlockt, die an einen ausgebrochenen Zoo erinnern, oder das leise, fast unhörbare „My funny Valentine“-Zitat des modal-modernen Pianisten Stephen Scott, bei dem das innere Licht automatisch gedimmt wird, der Herzschlag sich verlangsamt und Noten wie eine Feder durch den Hofapothekenkeller schweben.
Wenn es noch eines Höhepunktes für das festivalartige Jazzwochenende in Neuburg bedurfte, so hat Carter ihn ohne Zweifel gesetzt. Ein Konzert voller Eleganz, Diskretion, Noblesse und Raffinesse, das Spuren in der Erinnerung hinterlässt. Ob durch die ausgeklügelten Rollenspiele des Quartetts, bei denen im konstanten Wechsel auch Drummer Payton Crossley den melodischen Faden aufnimmt, während die anderen stoisch das Thema wie einen Gletscher talabwärts schieben. Oder dem unglaublichen „You and the Night and the Music“, in dem der 65-jährige Carter, der spätestens nach Ray Browns Tod als bester noch lebender Bassist des Jazz gelten darf, eine simple ostinate Figur ersinnt, die alles durchdringt, ein Hammergroove, der einem partout nicht mehr aus dem Kopf will.
Dieser hölzerner Korpus in der Mitte der Bühne führt wie kein anderer aus der Zunft ein Leben neben dem Walkingbass. Geduldig, überlegt und mit seiner ganzen natürlichen Autorität ordnen er und sein Besitzer die Dinge, stellen Zusammenhänge her und erklären mit wenigen, prägnanten Tönen den Lauf der Dinge. „Geht nicht“ gibt’s nicht bei Ron Carter, der mit seiner offenkundigen Passion für leise, filigrane Strukturen sogar das Kunststück fertig bringt, die kochend heiße Notenmagma Südamerikas in einen ruhig dahinfließenden Strom zu verwandeln.
Alle Kraft schlummert direkt unter der dünnen Oberfläche. Es knistert unaufhörlich, ohne jemals richtig zu explodieren. Selbst ein Heißsporn wie Stephen Scott, nimmt sich spürbar zurück, drosselt seine stakkatierenden, farbenprächtigen Läufe, die ihn als eines der größten Talente an den Tasten ausweisen. Womit aber auch sein nerviger Parallel-Singsang (ein unerklärliche Unart bei Pianisten) unerwartet in den Vordergrund rückt.
Mithin die einzig heftige Turbulenz während eines wunderschönen Gleitflugs durch die herbstliche Nacht. Als Kapitän Carter zur Landung ansetzt, mit seinen feingliedrigen Fingern nur von Steve Kroons Tabla begleitet, ein gleißend warmes „Besame Mucho“ intoniert, da schweben die meisten Zuhörer noch mitten im siebten Himmel.