Eigentlich gäbe es genügend Anlass, eine Krise auszurufen. Denn Ende 2019 kommen Jazzfestivals fast nur mehr als Mogelpackungen daher, wie BR-Jazzredakteur Roland Spiegel im Programmheft für das 9. Birdland Radio Jazz Festival überraschend deutlich feststellte. Überall herrscht immenser Erfolgsdruck, bei der Internationalen Jazzwoche in Burghausen oder bei den Jazztagen in Ingolstadt. Weil man mit Speck bekanntlich Mäuse und mit Pop eben Zuschauer fängt, verwässern die Konzepte der Veranstalter zusehends. Die Konzession an den Massengeschmack ist längst keine Ausnahme mehr, sondern zur gängigen Regel geworden.
Nicht so in Neuburg. Dort fand bis zum frühen Sonntagmorgen zum mittlerweile neunten Mal ein Jazzfestival statt, das diesen Namen tatsächlich verdient. Man muss das Rad keineswegs neu erfinden und den Keller unter der Hofapotheke auch nicht in ein Matratzenlager wie jüngst beim renommierten Berliner Jazzfest verwandeln, damit das Publikum aus Augsburg, München und entlegenen Teilen der Republik das Gefühl bekommt, etwas Besonders zu erleben. Der Birdland-Jazzclub hat sich im Laufe seines 61-jährigen Bestehens einen derart starken Vertrauensvorschuss bei den Fans erarbeitet, dass im Normalfall auch unbekanntere Bands immer genügend Zuhörer finden. Deshalb steht das Festival an der Donau auch exemplarisch für die antizyklische Variante des Themas „Jazz“. Acht Konzerte im kleinen (Club) oder größeren (Audi Forum Ingolstadt, Stadttheater Neuburg) Rahmen, nahezu alle ausverkauft, intim, familiär, inspirierend. Dass der BR jeden Ton aufzeichnet und zeitversetzt sendet oder am Schlusstag abermals mit einer vierständigen Livesendung aus Neuburg seinen imaginären Hut vor Neuburg zieht, mehrt dessen Ruf von Jahr zu Jahr.
Diesmal setzten die „etwas älteren jung gebliebenen Männer“ (O-Ton Spiegel) eindeutig die Akzente. Der italienische Trompeter Enrico Rava (80), der französische Bassklarinettist Michel Portal (83), der amerikanische Gitarrist Ralph Towner (79) und „der unglaubliche Rolf Kühn“ (90) an der Klarinette, wie ihn seine Bassistin Lisa Wulff am Freitagabend vor einem enthusiastischen Publikum im Hofapothekenkeller feierte. Kühn und seine phänomenale Band um die immens talentierte Wulff, den sensiblen Pianisten Frank Chastenier und den mitreißenden Schlagwerker Tupac Mantilla präsentierten ein hochvirtuoses Yin und Yang der modernen Musik. Bei den Vieren harmonisieren feiner, direkter Swing und harter, atonaler Freejazz auf wundersame Art und Weise. Was für ein Erfahrungsschatz, der da in jedem Ton mitfließt. Aber keine Sentimentalitäten. Alles treibt nach vorn. Aus der Empfindsamkeit erwächst zugleich eine produktive Unruhe. Und die Anziehungskraft unterschiedlicher Pole wird in dem Quartett zum Zentrum des Geschehens. Ein entfesselter Magnetismus aus schnellen Reaktionen, Tempowechseln, rasanten Läufen. Dazu immer wieder diese hauchzarten Balladen wie „Angel Eyes“, in denen Kühn deren ganze Unschuld offenlegt und eine Verletzlichkeit generiert, die bei jedem im Raum körperlich spürbar wird. Wie in einem wilden Duett mit Mantilla, in dem sich der Drummer von Kühn Experimentierlust mitreißen lässt und seinen athletischen Körper als Resonanzraum nutzt.
Momente wie diese repräsentierten von Beginn an das Birdland Radio Jazz Festival, wie der fulminante Auftritt der jungen Combo „The Real Mob“, die am Schlusstag live über den Äther dem großen Blue-Note-Saxofonisten Mank Mobley ein akustisches Denkmal baute, ebenso wie das hoch politische Black Art Jazz Collective aus den USA sowie die spanische Pianistin Marta Sanchez. Genügend Stoff also, um bei den späteren Sendeterminen noch einmal reinzuhören. Oder gleich am besten für das Jubiläum eines der letzten „echten“ Jazzfestivals im kommenden Jahr einmal selbst vorbeizuschauen.Rol