Dieser Ton! Dunkel, erhaben, leuchtend, mal voll, dann wieder schlank, sich wie Efeu an der Tonleiter emporrankend, entweder lang mit großem Atem gehalten oder wie schnelle Morsezeichen in den Raum gestanzt und Melodien formend wie ein Töpfer sein Gefäß. Er wechselt sein Erscheinungsbild innerhalb von Sekunden: von erhaben klassisch auf dreckig knurrend wie ein Straßenköter. Jeder Klarinettist muss jahrzehntelang üben, bis er es auch nur halbwegs so hinbekommt. Aber Rolf Kühn hat ihn einfach, diesen Ton – und gibt ihn auch nicht mehr her, selbst mit bald 92 Jahren. Natürlich auch nicht bei seinem jüngsten Gastspiel zur Saisoneröffnung im Neuburger Birdland-Jazzclub.
Wo fast allen Generationskollegen schlicht die Luft ausgeht, wo sie ihren Ansatz im höheren Register schlicht nicht mehr halten können und deshalb auf das leichtere Sopransaxofon umsteigen (wie an gleicher Stelle 1995 der große Jimmy Giuffre bei seinem vermutlich letzten Konzert) oder lieber gleich in den Austrag gehen, da spielt Kühn einfach weiter. So, als hätte seit den Zeiten von Benny Goodman, in dessen Orchester er einst mitwirkte, niemand mehr einen Tag vom Kalenderblatt abgerissen. Wie macht er das nur? Natürlich üben, während der Pandemie bedingten Zwangspause noch mehr als sonst. Aber es ist auch diese besondere Gabe, eins mit einem Instrument zu werden, das wie für ihn geschaffen scheint; so als hätte jemand bei seiner Erfindung Rolf Kühn als Prototypen eines Benutzers vor dem geistigen Auge gehabt.
Mit der Klarinette kann der Berliner einfach alles: swingende, boppende Phrasen ebenso wie freie Themen, völlig entschleunigte Balladen oder erregende Dia- oder Trialoge mit seiner fantastischen Begleitcrew um den einfühlsamen, emphatisch reagierenden Pianisten Frank Chastenier, die wie eine impressionistische Malerin kolorierende Bassistin Lisa Wulff sowie den hyperaktiven, scheinbar vierarmigen und -beinigen Schlagwerker Tupac Mantilla. Nichts wirkt dabei bemüht, zwanghaft konstruiert oder aufgesetzt. In der sublimen Zähmung des Widerständigen entstehen die typischen fließenden, tänzelnden Linien mit der Durchlässigkeit eines Aquarells. Kühn hat alle stilistischen Gradwanderungen selbst miterlebt, mit den Besten aus verschiedenen Generationen gespielt. Eine wandelnde Datenbank des Jazz. Oder viel treffender: ein nationaler Kulturschatz.
Deshalb war es irgendwie logisch, Rolf Kühn in diesem Jahr als Türöffner für die neue, hoffentlich von Corona weitgehend unberührte Jazzsaison in den renommierten, längst weltweit bekannten Jazzclub an die Donau für gleich zwei – natürlich ausverkaufte – Konzerte einzuladen. Eine Ehre, die jahreslang dem Trompeter Dusko Goykovich zuteil wurde. Da der jedoch aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr kann und im Oktober 90 wird, musste nun eben ein 92-Jähriger her. Der gibt jedem Selbstbemitleider nebenher noch eindrucksvoll Anschauungsunterricht auf offener Bühne, wie man in Würde altern kann und trotzdem im Herzen jung bleibt. Sitzend zwar, aber mit wachen Augen und offenen Sinnen, kommentiert er Tupac Mantillas Body-Drumming, das wie eine Mischung aus Steptanz und Schuhplattler aussieht, mit dezent nuancierten, kurz geschwungenen Linien. Mal biegt seine Band in eine dunkle Gasse ab, wo sie einem Albtraum-Blues begegnet, mal wärmen die Strahlen von Edel-Standards wie „Angel Eyes“ oder „Body And Soul“ das aufmerksame Auditorium. Wie angenehm, dass deswegen noch längst nicht alles perfekt sein muss – zum Glück! Im offenen Impro-Labor unterbrechen die vier ein Stück gleich zwei Mal, ändern die Tempi, setzen neu an, bis der Meister zufrieden lächelt. Am Tag darauf klingt es wieder eine Nuance anders.
Das Beste kommt, wie es sich auch bei Rolf Kühn gehört, zum Schluss: Joni Mitchells „Both Sides Now“, nur mit Pianist Chastenier und ihm, intim, leise, anrührend, unschuldig, verletzlich, körperlich spürbar, voller erhabener Schönheit und altersweiser Erzählkunst – zum Niederknien! Der Mann weiß wirklich, wie man die Zeit anhält. „Ich hätte nur eine Bitte“, gibt Rolf Kühn seinem begeisterten Publikum noch mit auf den nächtlichen Nachhauseweg. „Kommt in zwei Jahren wieder! Das liegt wirklich nur an euch!“ So klingt grenzenloser Optimismus. Der Ton macht eben die Musik.