Was für ein Auftakt der neuen Saison 2021/22 im Birdland Jazzclub in Neuburg. Der große Rolf Kühn, seit Jahrzehnten der Säulenheilige der Klarinette schlechthin, und seine Band sind an zwei Abenden hintereinander zu Gast im Gewölbe unter der ehemaligen Hofapotheke.
Wüsste man es nicht besser, merkte man gar nicht, dass der Mann an der Klarinette in diesen Tagen 92 Jahre alt wird. Stets neugierig, stets voller neuer Ideen, stets auf der Suche nach spannenden Ausdrucksformen war er seit jeher und ist er immer noch. Er versprüht die Energie des ewig Junggebliebenen, eine Lebendigkeit, die ansteckt, das Publikum im ausverkauften Saal und seine Mitmusiker auf der Bühne. Das sind der souveräne Pianist Frank Chastenier, die exzellente Lisa Wulff am Kontrabass und der virtuose Schlagzeuger und Perkussionist Tupac Mantilla. Jeder einzelne ist eine Klasse für sich, zusammen sind sie eine Macht.
Kühn ist keiner, der sich auf einst erworbenen Meriten ausruht, seine Einzigartigkeit liegt darin, ein Perfektionist zu sein und gleichzeitig das Abenteuer zu suchen, fest umrissene Strukturen zu schaffen und sich innerhalb des vorgegebenen Rahmens mit Coolness, Grandezza und Nonchalance zu bewegen. Der Anteil der Interaktion zwischen den Beteiligten ist hoch, aber eben nicht grenzenlos ausufernd. Absolute Präzision und freie Entfaltungsmöglichkeiten gehören für ihn unbedingt zusammen. Phasen des wilden Powerplay und straff organisierte Riffs stehen bei ihm einträchtig nebeneinander. „Wir haben das noch nie gespielt“, sagt als Ankündigung für eine brandneue Kompositionen. „So ganz genau wissen wir selber nicht, was am Ende dabei herauskommen wird.“ Wer so vorgeht, scheut weder Anstrengung noch Risiko.
Zwischendurch gönnt er sich und dem Publikum ein paar Verschnaufpausen mit den wunderschön interpretierten Balladen „Angel Eyes“, „Body & Soul“ und „Easy Living“, gibt sich erst zufrieden, als das Ergebnis optimal ist, auch wenn er dazu drei Takes braucht. Der Bayerische Rundfunk schneidet das Konzert mit – denn die Verantwortlichen dort wissen natürlich ganz genau, welches Kaliber hier im Birdland zu Gast ist – und da will man sich schließlich von der besten Seite zeigen.
Am Ende verlässt Kühn sogar sein eigenes Genre. Mit Joni Mitchell’s „Both Sides Now“, das sein aktuelles Album „Yello + Blue“ eröffnet, beschließt er den Abend, ganz leise, ganz intim, nur er allein, dezent begleitet vom Pianisten, geht es darin doch um die Betrachtung des Daseins von verschiedenen Seiten aus, von innen und außen, oben und unten, rückblickend und oder zukunftsorientiert. Wer diese Bilanz wagt, muss in sich gehen, all das Tamtam um sich herum ausblenden. Ohne den Mut, sich vor sich selbst zu entblößen, funktioniert das nicht. Vielleicht geht Kühn’s Version der Mitchell-Komposition gerade deswegen so unter die Haut, weil er in diesem speziellen Moment genau das suggeriert. Schonungslose Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit, die anrührt. Nachher kann nichts mehr kommen, wäre eine zweite Zugabe fehl am Platz. – Was für ein Einstieg in die neue Konzertsaison im Birdland.