Rolf Kühn „Yellow + Blue“ | 10.09.2021

Donaukurier | Karl Leitner
 

Was für ein Auftakt der neuen Saison 2021/22 im Birdland Jazz­club in Neuburg. Der große Rolf Kühn, seit Jahrzehnten der Säulenheilige der Klarinette schlechthin, und seine Band sind an zwei Abenden hintereinander zu Gast im Gewölbe unter der ehemaligen Hofapotheke.

Wüsste man es nicht besser, merkte man gar nicht, dass der Mann an der Klarinette in diesen Tagen 92 Jahre alt wird. Stets neugierig, stets voller neuer Ideen, stets auf der Suche nach spannen­den Ausdrucksformen war er seit jeher und ist er immer noch. Er versprüht die Energie des ewig Junggebliebenen, eine Lebendigkeit, die ansteckt, das Publikum im ausverkauften Saal und seine Mitmu­siker auf der Bühne. Das sind der souve­räne Pianist Frank Chastenier, die exzel­lente Lisa Wulff am Kontrabass und der virtuose Schlagzeuger und Perkussionist Tupac Mantilla. Jeder einzelne ist eine Klasse für sich, zusammen sind sie eine Macht.

Kühn ist keiner, der sich auf einst er­worbenen Meriten ausruht, seine Einzig­artigkeit liegt darin, ein Perfektionist zu sein und gleichzeitig das Abenteuer zu suchen, fest umrissene Strukturen zu schaffen und sich innerhalb des vorgege­benen Rahmens mit Coolness, Grandez­za und Nonchalance zu bewegen. Der Anteil der Interaktion zwischen den Be­teiligten ist hoch, aber eben nicht gren­zenlos ausufernd. Absolute Präzision und freie Entfaltungsmöglichkeiten gehören für ihn unbedingt zusammen. Phasen des wilden Powerplay und straff organisierte Riffs stehen bei ihm einträchtig neben­einander. „Wir haben das noch nie ge­spielt“, sagt als Ankündigung für eine brandneue Kompositionen. „So ganz ge­nau wissen wir selber nicht, was am Ende dabei herauskommen wird.“ Wer so vorgeht, scheut weder Anstrengung noch Risiko.

Zwischendurch gönnt er sich und dem Publikum ein paar Verschnaufpausen mit den wunderschön interpretierten Balla­den „Angel Eyes“, „Body & Soul“ und „Easy Living“, gibt sich erst zufrieden, als das Ergebnis optimal ist, auch wenn er dazu drei Takes braucht. Der Bayeri­sche Rundfunk schneidet das Konzert mit – denn die Verantwortlichen dort wissen natürlich ganz genau, welches Kaliber hier im Birdland zu Gast ist – und da will man sich schließlich von der bes­ten Seite zeigen.

Am Ende verlässt Kühn sogar sein ei­genes Genre. Mit Joni Mitchell’s „Both Sides Now“, das sein aktuelles Album „Yello + Blue“ eröffnet, beschließt er den Abend, ganz leise, ganz intim, nur er allein, dezent begleitet vom Pianisten, geht es darin doch um die Betrachtung des Daseins von verschiedenen Seiten aus, von innen und außen, oben und un­ten, rückblickend und oder zukunftsori­entiert. Wer diese Bilanz wagt, muss in sich gehen, all das Tamtam um sich her­um ausblenden. Ohne den Mut, sich vor sich selbst zu entblößen, funktioniert das nicht. Vielleicht geht Kühn’s Version der Mitchell-Komposition gerade deswegen so unter die Haut, weil er in diesem spe­ziellen Moment genau das suggeriert. Schonungslose Ehrlichkeit, Wahrhaftig­keit, die anrührt. Nachher kann nichts mehr kommen, wäre eine zweite Zugabe fehl am Platz. – Was für ein Einstieg in die neue Konzertsaison im Birdland.