Rita Marcotulli & Luciano Biondini | 24.10.2020

Neuburger Rundschau | Reinhard Köchl
 

Dinge, die über all die Jahre zur persönlichen Struktur gehörten, haben sich schlagartig verändert. Keiner weiß genau, ob und wann solch liebgewonnenen Gewohnheiten wieder ein Riegel vorgeschoben wird. Gerade deshalb sind die regelmäßigen Konzerte im Neuburger Hofapothekenkeller derzeit besondere Momente. Seit September bieten sie Augenblicke des Innenhaltens, das historische Gewölbe hat trotz Hygieneregeln längst die Funktion einer Oase eingenommen, in der Menschen Kraft und Zuversicht schöpfen.

Aber erst bei einem Konzert wie dem der Pianistin Rita Marcotulli und des Akkordeonisten Luciano Biondini wird einem so richtig bewusst, welches Geschenk es ist, in Zeiten wie diesen ein hochkarätiges musikalisches Liveerlebnis genießen zu dürfen. Das Birdland gehört zu den ganz wenigen Locations in Deutschland, die es sich zum Ziel gesetzt haben, die Fahne hochzuhalten – auch im Interesse der unzähligen Musikerinnen und Musiker, die in Ermangelung von Auftrittsmöglichkeiten gerade zu Hause zur Tatenlosigkeit verdammt sind. Ähnlich ergeht es dem italienischen Duo, das trotz ebenfalls steigender Infektionszahlen in ihrem Heimatland noch nach Neuburg anreisen konnte – quasi als Vorhut für den Italien-Schwerpunkt des 10. Birdland Radio Festivals, das gerade auf Hochtouren läuft.

Es ist eine in jeder Hinsicht offene, lebensbejahende Musik, genährt aus den Wurzeln ihrer italienischen Heimat, die der 49-jährige Akkordeonist aus Spoleto bei Perugia und die 61-jährige römische Pianistin da durch den Keller schweben lassen. Wunderschöne, klare Melodien, so frisch wie ein Gebirgsbach, voller südländischer Leidenschaft wie etwa in „Vagabondi delle stelle“ (Wanderer der Sterne) oder in „La Strada invisibile“ (Die unsichtbare Straße). Und sie scheint aus einer Zeit vor Corona zu stammen, möglicherweise aber auch aus einer danach. Marcotulli und Biondini zelebrieren die reduzierteste Art gemeinsamen Musizierens, aber eine der spannendsten: Das Duo im magischen Dialog. Die Kraft der Melodie fungiert als ihr Klebstoff im Zusammenspiel. Beide suchen den Zauber des Moments, ihre virtuosen instrumentalen Fähigkeiten benutzen sie als Vehikel, um zur eigentlichen Seele der Musik vorzudringen.

Alles funktioniert. Keine Stolperer, kein Zaudern oder Zurückbleiben, keine falschen Noten, und das alles trotz fehlender Auftrittsroutine. Rita und Luciano funktionieren schlicht perfekt, sie vertrauen einander blind, stürzen sich kopfüber in die größten Herausforderungen, seien es wahnsinnige Tempi, abrupte Tonartwechsel, plötzliche Intervallsprünge oder verwegene Impro-Exkurse. Dieses Tandem verdient das oft leichtfertig verschwendete Prädikat „organisch“ mehr als jede seiner Konkurrenten.

Selbst wenn sie die Leidenschaft übermannt, wirken ihre Ritte auf der Rasierklinge, die verwegenen Schussfahrten durch das Auge des Hurrikans allzeit kontrolliert und mühelos. Sie verweben Jazz, Klassik oder italienische Liedkunst voller Humor, Zärtlichkeit, Melancholie und Temperament zu einem großen, tröstenden Ganzen. Und es sind oft die kleinen Bewegungen, Gesten und Linien, aus denen spontan spannende Momente und neue musikalische Offenbarungen entstehen. Grandioser als in der frenetisch erklatschten Zugabe „Over The Rainbow“ mit all ihren Verschiebungen, Seitenpfaden und feinen, labyrinthischen Schleifen lässt sich dieses Phänomen kaum mehr darstellen. Am Schluss steht ein furioser, knallbunter Regenbogen unüberhör- und -sehbar am Firmament.

Freilich steht zu befürchten, dass Rita Marcotulli und Luciano Biondini die einzigen Künstler aus Italien bleiben könnten, die das 10. Birdland Radio Festival, mit ihrer Anwesenheit bereichern. Da ab 8. November neue Quarantäne-Richtlinien für Reisende aus Risikogebieten in Kraft treten sollen, steht ein Fragezeichen über den geplanten Gastspielen von Rosario Giuliani und Pietro Lusso (13. November), Stefano Bollani (19. November) und Daniele di Bonaventura (20. November) in Neuburg. Birdland-Chef Manfred Rehm lässt sich dadurch jedoch nicht aus der Ruhe bringen und arbeitet schon an einem Plan B, sprich an möglichen Alternativen. „Es gibt so viele herausragende deutsche Musiker, die noch dazu gerade verfügbar wären, so dass wir im schlimmsten Fall diese Termine alle gleichwertig besetzen können“, betont Rehm. „Allerdings hoffen wir momentan noch, dass es vielleicht doch irgendwie klappen könnte.“