Ray Andersons’s Pocket Brass Band | 18.03.2022

Neuburger Rundschau | Reinhard Köchl
 

Was für ein Konzert! Haben Sie jemals einen Schlagzeuger gehört, der sein Solo auf der Hi-Hat beginnt und dann zu Quietscheschweinchen übergeht? Ein rosafarbenes, ein gelbes und ein braunes, alle nicht nur in punkto Ton perfekt aufeinander abgestimmt. Tommy Campell, ein baumlanger Hüne mit multipler kreativer Fantasie, drückt sie inbrünstig und erstaunlich groovend und produziert auf diese Weise das abstruseste Drumsolo, das je im Birdland Jazzclub Neuburg erklang. Es dauert fast 15 Minuten, aber den Leuten im vollbesetzten Hofapothekenkeller kommt es vor wie der perfekte musikalische Kurzsketch. Sie können nicht genug davon bekommen, kichern, glucksen oder lachen lauthals auf, während sich ganz langsam die anderen Musiker in das schweinische Klangbild drängen. Joe Exley mit seinem monumentalen Sousaphon grunzt seinen vermeintlichen Artgenossen stoisch entgegen, Ray Andersons Posaune röhrt wie ein Hirsch in der Brunft, während James Zollar seine Trompete wie ein Bauer zur Mittagszeit rotzen lässt. Old MacDonalds. . .? Nein, die Pocket Brass Band ist endlich wieder zurück in ihrem erklärten Lieblingsclub!

Tatsächlich gab es selten ein Konzert in der über 63-jährigen Geschichte des Birdland Jazzclubs, das mit einer derart großen Erwartungshaltung behaftet war. Eigentlich hätte jenes legendäre Ensemble, das Ray Anderson seit den 1990er Jahren immer wieder in wechselnden Besetzungen auf die Rampe schickt, schon im März 2020 in Neuburg auftreten sollen. Doch Corona machte der von allen Seiten sehnlichst herbeigewünschten Rückkehr in den Neuburger Keller nach 2003 einen jähen Strich durch die Rechnung. „Zwei Jahre mussten wir warten“, bedauert Anderson, der mit seinen 69 Jahren eine ganze Reihe von lebensgefährlichen Erkrankungen überstanden hat und deshalb als das Stehaufmännchen des modernen Jazz gilt. Es wirkt keinesfalls so, als würde er diesen Satz jeden Abend in jedem anderen Club ins Mikrofon hauchen. Der Posaunist liebt das Kellergewölbe, weil er hier stets zur absoluten Hochform aufläuft. „Nur in Cottbus durften wir damals spielen. You know Codbass?“ Wieder Lachen – weil bei ihm der Schalk in jedem Wort, jedem gespielten Ton sitzt.

Natürlich hat die Pocket Brass seit ihrem letzten Gastspiel eine radikale Blutauffrischung erfahren. Sie wirkt moderner, nicht mehr wie die Satire auf die Schein-Fröhlichkeit der alten Marching Bands. Eher wie ein runderneuertes Gefährt, das aus Klängen, Noten und Tempi sowie anderen Energiequellen wie Ragtime, Reggae, Freejazz oder Funk angetrieben wird. Die Vier hüpfen keineswegs wahllos zwischen der harmonisch strengen Vitalität des Ur-Jazz und freitonalen Kollektivimprovisationen hin und her, sondern klingen erfrischend emanzipiert von allen Konventionen. Der Faktor „Lust“ scheint das Kommando im Quartett der Springteufelchen übernommen zu haben. Wie es laszive Balladen wie John Coltranes „Dear Lord“ im Kriechgang zelebriert, wie seine pulsierenden Arrangements wärmen, etwa im rockigen „Choppers“, das irgendwie nicht in die Puschen kommen will, weil es keine Distanz schafft, sondern sich voll und ganz mit den Bedürfnissen des Publikums deckt, das hat etwas tief unter die Haut Gehendes, Intimes, fast Körperliches, das gerade Anderson wie kein Zweiter vorlebt.

„Who Knows What“ ist sein Stück: Ein gebrabbelter Sprechgesang, der im Mittelteil in eine Art Rap übergeht, bei dem er immer wieder Worte wie „Email“, „It can change“ oder „I know it well“ im Staccato ausspuckt, während die Band das Hexengebräu mit Zitaten aus Ramsey Lewisʼ „Wade In The Water“ oder „Down By The Riverside“ würzt. Ray Anderson bläst nicht, er singt durchs Mundstück. Wenn sich sein beißend-gleißender Ton, seine unnachahmliche Emotionalität und seine stupende Technik zu pulsierenden Soli vereinen, dann fließen hörbare Speichelströme durch die Mechanik. Vieles aus dem Herzen der Band erreicht die Menschen im Auditorium ohne Reibungsverlust. Die Melancholie von „No Solid Ground“ vor der Pause, ein Stück, bei dem Trompeter James Zollar und der Drummer Tommy Campell die wilde Hatz auf den armen Joe Exley eröffnen. Der wirkt mit seinem mächtigen Sousaphon zunächst tapsig, hilflos, beginnt dann zu laufen, immer schneller, bis aus dem Bär ein Sprinter wird.

Und dann verlassen drei der vier auch noch die Bühne und torkeln wie eine Horde streunender Katzen mitten durch die Stuhlreihen. Die Zugabe (Anderson: „Aber dazu müsst ihr tanzen!“) lockt ganz offenbar in die Südsee – und diesmal trommelt Campell wieder nicht auf seinen Fellen, sondern auf seinem ganzen Körper! Ja, er und die Pocket Brass Band haben an diesem ganz besonderen Abend mächtig Spaß. Genauso wie das Publikum. Was für ein Konzert!