Manchmal bietet das Leben schon eigenartige Zufälle. Das des Posaunisten Ray Anderson und seiner Pocket Brass Band zum Beispiel. Im März 2019 war er zusammen mit dem Trompeter James Zolar, dem Sousafonisten Joe Exley und dem Schlagzeuger Tommy Campbell auf einer Deutschland-Tour inklusive eines geplanten Stopps auch im Birdland in Neuburg. Dann kam Corona und Anderson musste nach nur einem Konzert abbrechen. Das fand in Cottbus statt, wurde auf CD veröffentlicht und zeigt eine Band in phantastischer Form. Fast auf den Tag zwei Jahre später wird die Tour im Birdland fortgesetzt und schließt nahtlos dort an, wo sie damals in Brandenburg so abrupt endete.
Natürlich freut sich Anderson über alle Maßen, ist voller Euphorie, regelrecht aufgekratzt. Der Mann aus Chicago, der die Musik von New Orleans so sehr in sich aufgesogen hat und sie Abend für Abend via Posaune wieder ausspuckt, ist bekannt für seinen frechen, ja, rotzigen Spielstil und für seine witzigen Kompositionen. Und er wurde von „Downbeat“-Magazin fünfmal hintereinander zum besten Posaunisten der Gegenwart gewählt. Es ist also schon ein richtig großes Kaliber, das da im Birdland ins Horn stößt, ins Mundstück growlt, brummt und schmatzt, bei Bedarf auch rappt und scattet, einer Marching Band vorsteht, die er mit Lust und Wonne immer wieder ins Stolpern bringt, andererseits eines Quartetts, das nichts lieber tut, als auszubrechen, das Wagnis liebt. Der Ohrenzeuge, der dem akustischen Treiben gebannt folgt, verspürt in der Tat die Gänsehaut kurz vor dem Crash. Einem Crash, der natürlich nie stattfindet, im Gegenteil, Anderson hat große Teile genau so eingeplant.
Auch den Witz. Etwa Campbells Solo auf einem Arsenal an Quietschtieren aus Plastik, Stellen, an denen die Band klingt wie eine Katze, die über die Dächer von New Orleans schleicht, aber immer wieder lauthals miaut und zornig faucht. Oder wenn, wie in „Chopper“ mit enormer Präzision der komplette Rhythmus durch den Wolf gedreht wird. Es gibt Passagen, in denen der Schlagzeuger rhythmisch in Afrika weilt, der Trompeter gleichzeitig mit King Oliver in Storyville herumlungert und Joe Exley das Sousafon spielt, als stapfe er in Gummistiefeln durch den Morast. Eigentlich kann das gar nicht alles zusammenpassen, tut es aber doch. Spätestens dann, wenn die Band nämlich ihre immensen Spannungsbögen absolut deckungsgleich auflöst und Anderson schlitzohrig in die Runde grinst, kennt die Begeisterung im Saal keine Grenzen. Man ist überrascht und geplättet und muss auch noch lachen dabei.
2006 hat Anderson auf dem Album „The Line Up“ ein Stück mit dem Titel „On Solid Ground“ veröffentlicht. Heute, nach persönlichen Schicksalsschlägen und Karrierebrüchen, und angesichts einer Welt, die aus den Fugen zu geraten scheint, heißt es „No Solid Ground“. Anderson geht auf seine ganz eigene Art mit dieser Erkenntnis um. Er feiert den Augenblick, steckt alle damit an und schickt sogar sich und seine Kollegen als Marching Band für eine Runde durch den Saal. Was für ein herzerfrischender Abend! Welch großartige Musik!