Ray Anderson`s Pocket Brass Band | 22.11.1997

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Es riecht verdächtig nach Sakrileg im Neuburger „Birdland“-Jazzclub. Vier Musiker aus der düstersten Avantgarde-Ecke haben eine Homage auf die goldene New-Orleans-Ära angekündigt und damit Neugierde, Verunsicherung und Bauchgrimmen ausgelöst. Denn diese selbsternannten Normensprenger kennen keinen Respekt vor den heiligen Werten des Jazz und fleddern rotzfrech jedes noch so erhabene Thema.

Ein Nimbus, mit dem die „Pocket Brass Band“ des amerikanischen Weltklasseposaunisten Ray Anderson gerne bei jedem ihrer Konzerte kokettiert. Das nach dem Vorbild traditioneller Marching-Bands im Taschenformat zusammengestellte Ensemble betreibt jedoch weniger eine Art Demontage alter Dixielandtitel, sondern eher deren kunstvolle Restaurierung. Mit Andersons Hilfe verlieren die fetten, sterilen Schmachtfetzen ihre ranzige Hülle und stehen plötzlich als peppende, pumpende, poppende, rollende und manchmal auch rapende Kleinodien da.

Das Prinzip des New Yorkers, dem auch in Neuburg der Habitus eines kleinen Bruder des Grunge-Songpoeten Tom Waits anhaftete, ist einfach: die überlieferten Standards ein bißchen zerstören, aber nicht ganz. Anklänge von Scott Joplins „Pineapple Rag“ etwa bleiben jederzeit fühlbar. Was die kongeniale Truppe um den hinreißenden Ex-Mingus-Trompeter Jack Walrath, den exotischen Tuba-Virtuosen Jose Davila und die kauzige Drum-Legende Charli Persip jedoch mit viel Witz und Groove drumherumbastelte, besaß die Qualität von Miniopern.

Fast schien es, als sei die „Pocket Brass Band“ akribisch darum bemüht, alle nur erdenklichen Kombinationen von Bläserelementen vorzuführen, während Persip, stoisch hinter seiner Schießbude kauernd, dazu diesen ungebrochen verblüffenden Fußwipp-Reflex auslöste. Wer die schemenhaft auftauchenden Stile zu zählen versuchte, die Ray Anderson, das Posaunengenie mit dem zugfesten Ton und dem allesfressenden Musikgeschmack auftischte, der stieß spätestens bei der countrylastigen Verklärung Amerikas in „Where Home Is“ an seine Grenzen.

Logisch, daß bei solcher Weitläufigkeit auch neue Eigenkompositionen einen wertvollen, witzigen Reiz ausströmen. Bei Walraths „Sweat“ war schon der Titel Programm, bei „Lips Apart“, dem Stück über die Leiden der Lippen reisender Musiker, hauchte, zischte, blubberte und quietschte das Blech wie ein Bauernhof zur Fütterungszeit.

Wer kann, der kann! Sowohl Anderson, wie auch seine Mitstreiter verfügen über eine instrumentale Technik, die es ihnen erlaubt, alles zu spielen, was ihnen gerade in den Kopf kommt, aber auch im nächsten Moment wieder sämtlichen technischen Ballast über Bord zu werfen und nach Herzenlust die Gefühle durch das Rohr zu blasen. Man sollte bei der Bewertung der „Pocket Brass Band“ nicht immer gleich das hochgegriffene Bild von der Reise durch die Jazzgeschichte bemühen. Daß es diese moderne Form der Avantgarde nunmehr tatsächlich schafft, nicht mehr gegen, sondern für das Publikum zu agieren, stellt die weitaus wichtigere Erkenntnis dieses kurzweiligen Abends dar.