Ray Anderson Pocket Brass Band | 10.05.2003

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

„In this Club there is so much Music!” Als Ray Anderson kurz vor Mitternacht euphorisch „Birdland“-Boss Manfred Rehm umarmt, liegen fast drei Stunden hinter ihm, die mit nur wenig im Gewölbe unter der Neuburger Hofapotheke zu vergleichen sind.

Sicher: Schon vom bloßen Namen der Protagonisten her würde die „Pocket Brass Band“ immer und überall für absoluten Genuss bürgen. Aber dieses eine Konzert war definitiv anders als der Rest – in punkto Verlauf, Intensität und Wechselwirkung. Selten zuvor nämlich bildeten Musiker und Publikum so sehr eine Einheit wie an diesem Abend. „Wir haben auf vielen großen Festivals und in berühmten Clubs gespielt,“ schwärmt Anderson, immer noch völlig aus dem Häuschen. „Aber glaub` mir: So gut wie heute waren wir noch nie.“

Es muss ein unsichtbarer, vitaler Funke zwischen Bühne und dem voll besetzten Zuschauerraum übergesprungen sein. Denn wenn eine Combo mit einer derart komplizierten Instrumentierung fast immer am oberen Limit agiert, wenn sämtliche Gäste am Schluss nur noch dieses seltsame Grinsen im Gesicht tragen und völlig entspannt aus den Hüften heraus mitwippen, dann hat endlich wieder einmal die Magie guter Musik ihre ganze Wirkung entfaltet.

Die „Pocket Brass Band“ besitzt seit ihrer „Birdland“-Premiere 1997 bis auf Anderson ein völlig verändertes Gesicht. Was früher als Satire auf die Schein-Fröhlichkeit der Marching Bands daher kam, wirkt heute wie ein runderneuerter Organismus aus Klängen, Noten und Tempi. Die Vier hüpfen nicht mehr wahllos zwischen der harmonisch strengen Vitalität des Ur-Jazz und freitonalen Kollektivimprovisationen hin und her, sondern klingen inzwischen erfrischend emanzipiert.

Der Faktor „Lust“ scheint das Kommando im Quartett der Spingteufelchen übernommen zu haben. Wie es laszive Balladen wie „The Feast of Love“ im Kriechgang zelebriert, wie seine pulsierenden Arrangements wärmen, weil sie keine Distanz schaffen, sondern sich voll und ganz mit den Bedürfnissen des Publikums decken, das hat etwas tief unter die Haut Gehendes, Intimes, fast Körperliches, das gerade Anderson an der Posaune wie kein Zweiter vorlebt.

Der 51-Jährige bläst nicht, er singt durchs Mundstück. Wenn sich sein beißend-gleißender Ton, seine unnachahmliche Emotionalität und seine stupende Technik zu einem jener pulsierenden Soli vereinen, dann fließen hörbare Speichelströme durch die Mechanik. Vieles aus dem Herzen der Band erreicht die Menschen im Auditorium ohne Reibungsverlust. Die voluminöse, fast an eine italienische Oper erinnernde Melancholie von „Piece in our Time“ vor der Pause. Ein Stück, bei dem der unglaubliche Trompeter Lew Soloff und der einmal mehr hinreißend unkonventionelle Drummer Bobby Previte die wilde Hatz auf Matt Perrine eröffnen. Der wirkt am Susafon zunächst tapsig, hilflos, beginnt dann zu laufen, immer schneller, bis aus dem Bär ein Sprinter wird.

Und vor allem die sensationelle, eine Stunde dauernde „Sweet Chicago Suite“ im gesamten zweiten Teil. Ein Feuerwerk an frechen Zitaten und genialen Geistesblitzen, ein schlicht atemberaubendes Opus, bei dem die „Pocket Brass Band“ wie eine Horde streunender Katzen von einem atonalen Delirium der Großstadt ins andere torkelt, Soloff vorne in seinen Schalltrichter oder in zwei Mundstücke trötet und Anderson schließlich in der kollektiven Ekstase gar sein Gerät zerlegt, was den orgiastischen Spaß mitten auf dem Höhepunkt unterbricht. „Hat jemand eine Posaune dabei? Meine ist kaputt.“

Zwangspause, Rückzug in die oberen Gemächer, Reparatur. Keiner weicht. Nach zehn Minuten fährt die verrückte Quadriga genau dort fort, wo sie zuvor aufhörte. Bis dann zum entrückten Schluss die Musiker mitten unter den Leuten stehen und ihnen alles schenken, was sie nur wollen. Warum kann es nicht immer so sein? Weil ein Phänomen wie die „Pocket Brass Band“ sonst zur Normalität werden würde. So bleibt sie wenigstens der Stoff, aus dem wilde Tagträume gestrickt sind.