Ray Anderson Pocket Brass Band | 10.05.2003

Neuburger Rundschau | Dr. Tobias Böcker
 

Was passiert, wenn eine Marching Band in New Orleans 1903 aufbricht zu einer hundertjährigen Zeitreise? Mit ein bisschen Glück taucht sie nach einigen obligatorischen Zwischenstops in Chicago 1923 und New York 1953, 1973 und 1993 unversehens in Neuburg an der Donau auf und versetzt das geneigte Auditorium dortselbst in verzücktes Schwärmen. Nun, solches Glück beschied Ray Andersons Pocket Brass Band dem Publikum im Birdland Jazzclub.

Es braucht nur wenige Sekunden und die Zuhörerschaft im wieder einmal restlos ausverkauften Keller unter der Hofapotheke verfällt in kollektives Entzücken, dauergrinsendes Wohlbefinden und eine an Hysterie grenzende Begeisterung. Der Grund? Eine wild gewordene Brass Band, in der sich vier kongenial Verrückte zur wohl unterhaltsamsten Frischzellenkur des klassischen Hot Jazz zusammengefunden haben, die nur denkbar ist. Kopf des Unternehmens ist Ray Anderson, seines Zeichens einer der vielseitigsten Posaunisten, die der Jazz je kannte, ein stilbildender Musiker von schier überbordender Musikalität, humorvoller Virtuosität und einem unverwechselbaren Sinn für die (Un)möglichkeiten des Augenblicks. Da kann es schon mal passieren im Eifer des Gefechts zwischen Schmeicheln, Schmurgeln, Schmauchen, Blues und Leidenschaft, dass die Posaune plötzlich ihren Geist aufgibt, das Konzert eine kurze Unterbrechung erleidet und das Leatherman Tool in Aktion treten muss. Vorher liefert sich Anderson berauschende Duette und Duelle mit Lew Soloff, dem herzerfrischenden High-Note-Bläser und Crazybone, der auch mal in den Trichter der Trompete bläst, nur um zu hören, was denn auf der anderen Seite herauskommt. Ragtime und Bebop geben sich die Hand, lassen Storyville und Downtown gleichermaßen grüßen. Für Rhythmus- und Grundlagenarbeit verantwortlich zeichnen Bobby Previte, der wahrscheinlich langarmigste Schlagzeuger der Welt, und Matt Previne am Sousaphon. Das ist das Instrument mit dem gigantischen über Kopf geführten Schalltrichter, das sich der amerikanische Komponist John Philip Sousa Ende des 19. Jahrhunderts für seine Militärkapellen bauen ließ. Prevites Schlagzeug taktet in unablässigem Fortgang zwischen Two-Beat und Funk, Swing und Rock einen vitalen Puls der Erregung, Prevines Bassgebläse legt in dickflüssiger Virtuosität und nachhaltiger Wuchtigkeit die harmonische Basis für ein energetisches Powerplay, das alles andere hat als Westentaschenformat beim schier dionysischen Tanz durch die Geschichte des Jazz.