Paul Motian – Steve Swallow – Chris Potter | 05.04.1997

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Das Märchen vor dem Konzert: Paul Motian sei schwierig, unnahbar, kehre bei jeder Gelegenheit den Superstar raus und schere sich keinen Deut um sein Publikum. Die Realität danach: der 66jährige bedankt sich gutgelaunt für die Aufmerksamkeit im Neuburger „Birdland“, lobt Keller samt Veranstalter und wundert sich, daß solche atmosphärischen Clubs allenfalls noch in New York zu finden wären.

Näher kann man seinem erklärten Idol als gemeiner Fan kaum mehr kommen. Diesem anerkanntermaßen sensitivsten Schlagzeuger des modernen Jazz, den viele seit seiner Zugehörigkeit zum legendären Trio des Pianisten Bill Evans als „Wunderdrummer“ apostrophieren, weil er es wie kein Zweiter versteht, das Rhythmus-Set als Harmonieinstrument zu benutzen. Die Legende schraubt wie jeder Amateuer seine Becken ab und beantwortet derweil geduldig Fragen eines furchtlosen Anhängers. Ein auf Erden wandelnder Jazzgott benimmt sich wahrscheinlich anders.

Überhaupt gewichtet Paul Motian das Feedback zum Auditorium stärker, als manch unbekannter Nachwuchsmusiker. „Wie beginnen wir?“ fragt Bassist Steve Swallow unmittelbar vor dem Auftritt. Antwortet Motian: „Laß mich erst die Leute anschauen.“ Dies tut er grundsätzlich, quasi um die Reaktionen auf jedes einzelne Stück zu erfühlen. Im zweiten Set mustert er durch die Gläser einer Sonnenbrille fortwährend den Hofapothekenkeller, läßt den kahlrasierten Schädel kreisen und nickt immer wieder zufrieden. Das elanvolle Interplay zwischen ihm, Swallow und Chris Potter, dem 27jährigen Riesentalent am Tenorsaxophon, gefällt.

Motian weiß um die Gefahr des Mißverständnisses, um das falsche Image des verspielten Impressionalisten, das ihm nach wie vor anhaftet. Dabei flirtet der feingeistige Mann aus Philadelphia viel lieber mit dem Risiko, entwickelt ständig neue Ideen, frische Klangmobiles und aufregende Konzepte. Sein aktuelles Trio, ein Exzert aus seiner umjubelten „Electric Bebop Band“ vereint drei Soundfetischisten, denen die Harmonien zu Pastelltupfern geraten und die Rhythmen zu Federskizzen.

Das Spektrum der drei reicht weit: von Tongewittern auf höchstem Energielevel bis hin zu kaum noch wahrnehmbaren, sphärischen Klangflächen. Motian läßt seine Besen wie ein Stück Treibgut im ruhigen Wasser gleiten, verschränkt dann knorrige Rhythmen in einer modernen Bebop-Interpretation und wirkt in seiner Prägnanz manchmal wie ein Trommler im Kugelhagel des Schlachtfeldes. Durch seinen inneren Puls, seine vielfältigen Nuancierungen verknüpft er Potters warme, leuchtende Tongirlanden schlüssig mit Swallows singendem, wie ein Gitarre angeschlagenen fünfsaitigem E-Baß.

Gleichberechtigtes Zusammenspiel auf allerhöchster Ebene bestimmt hier jedes kreative Resultat. Wenn Motian, Swallow und Potter etwa über die kammermusikalische Harmonik Europas und die atonale Harmolodic Amerikas improvisieren, scheint es, als würden sich Bach und Ornette Coleman die Hand reichen. Reich an Differenzen erzählte das Trio im „Birdland“ Geschichten von hypnotischer Intensität und bestechender Virtuosität. Und irgendwie begeistert es merklich auch einen wie Paul Motian, daß es für diese anspruchsvolle, gegen den Strich gebürstete, aber doch kurzweilige Art von Musik nicht nur in Neuburg ein zunehmend wachsendes Publikum gibt.