Pablo Ziegler & Quique Sinesi & Martin Sued | 10.10.2021

Neuburger Rundschau | Reinhard Köchl
 

Das ist kein Jazz. Auch wenn der Jazz das, was Pablo Ziegler, Quique Sinesi und Martin Sued an diesem besonderen Abend wie einen fülligen Klangteppich im Hofapothekenkeller ausbreiten, immer schon gerne adaptieren wollte. Aber der Tango lässt sich nun mal nicht zähmen, eingliedern, vermischen oder gar schlucken. Er bleibt immer die Volksmusik Argentiniens, der Tanz der Emotionen, egal in welcher Form, ob als Milonga oder als Tango Nuevo, Letzterer von dem großen Astor Piazzolla zu Weltruhm geführt und auch diesmal der Gradmesser für dieses Konzert.

Schon allein die riesigen Notenblätter, die Ziegler, dieser immer wieder gerne gehörte Pianist, der auch am eher jazzunfreundlichen Sonntagabend den Birdland-Jazzclub in Neuburg fast bis auf den letzten Platz füllt, auf dem Bösendorfer-Flügel ausbreitet, verheißen eine Darbietung, bei der die Improvisation kaum eine Rolle spielen wird. Die behutsam arrangierten Stücke – die meisten aus der Feder des Mannes am Klavier – wirken wie Kurzfilme voller gedämpfter Farben, Leidenschaft, Verschmitztheit und Melancholie. Pablo Ziegler, inzwischen auch schon 77 Jahre jung, fliegt wie ein stolzer Gaucho durch die Themen; die Brust geschwellt, immer in engem Körperkontakt zu den schwarzweißen Tasten und die Wechselwirkung mit dem wieselflinken Gitarristen Sinesi sowie dem jungen Bandoneonisten mit dem Deutsch klingenden Namen suchend.

Die drei Argentinier zelebrieren den Augenblick des Innehaltens, des spannungsvollen Abwartens, in dem sich irgendwann einer von ihnen über jegliche Takte und Tempi hinwegsetzt und einen Ton ins Unendliche ausdehnt. Oft ist es das Bandoneon, dieses kleine Knopfakkordeon, das zunächst mit sanftem Druck und dann, auf den letzten Millimetern, mit roher Gewalt zusammengedrückt wird, um ihm noch ein letztes Seufzen und Ächzen zu entlocken, bis sich sein Blasebalg im Auseinanderziehen wieder mit Luft füllen darf. Martin Sued, der inzwischen Walter Castro ersetzt, tanzt darauf einen imaginären Tango mit dem Piano und entfacht ein emotionales, aber allzeit kontrollierbares Feuerwerk. Im Kopf laufen Bilder von leeren Fabrikhallen in Buenos Aires, von glattgefegtem Beton oder Linoleum, von einem schmerzgeplagten Liebhaber und einer anmutigen Frau, von Abschied, Wiedersehen und Erotik, geordnet mit feiner Hand von der Gitarre, die das Szenario vor einen austarierten, strukturierten Hintergrund platziert.

Gerade Quique Sinesis Saiteninstrument fällt in diesem Dreiergestirn eine Schlüsselrolle zu. Es ist die Klammer zwischen Argentinien und dem Rest der Welt, zwischen all den Milongas, Chacareras, Candombes, vor allem dem argentinischen Tango, und einer ganz weit entfernten, ungefähren Ahnung von dem, was Jazz vielleicht sein könnte. Das Stück, das Piazzolla für Bernardo Bertoluccis Skandalfilm „Der letzte Tango in Paris“ schrieb, oder das bedächtige „Muchacha de Boedo“: beide leben von ihren Facetten und melodiösen Schlingen. Die Darbietung der drei speist sich aus einer Intuition, die man schlicht mit der Muttermilch aufgesogen haben muss, einem ineinander verschränkten, federnden Musizieren voller gebrochener, kantiger Akkorde, klirrender, zuckender Synkopen und verwirrender Tempowechsel. Dabei verblüffen vor allem die Pausen, in denen die Musik erst langsamer wird und dann vielleicht für wenige Sekunden ganz schweigt, weil einer dem Klang seiner Töne nachspürt.

Ein Augenblick, in dem die Zeit stehen bleibt, in dem der Mann beim Tango mit seinem rechten Arm den Rücken der Frau kurz unter den Schulterblättern umfängt und mit seiner Linken ihre rechte Hand ergreift. Der kollektive Film über und mit dem Tango steuert auf seinen unaufhaltsamen, frenetisch bejubelten Höhepunkt zu. Jede Wette: In diesem Moment an diesem ganz besonderen Abend tanzt jede und jeder im restlos begeisterten Publikum hinter geschlossenen Augen mit!