Nachdem der legendäre Altsaxofonist Lee Konitz 2020 an den Folgen einer COVID-Infektion verstarb, arbeitete ein enger Vertrauter, der amerikanische Saxofonist und Komponist Ohad Talmor den üppigen und nicht sonderlich geordneten musikalischen Nachlass dieses Giganten auf. Bei der Sichtung der Hinterlassenschaften stieß er auf eine Reihe Tonbänder. Einige dieser Tapes enthielten Aufnahmen, die Konitz mit dem Jazz-Revolutionär Ornette Coleman eingespielt hatte. Die bislang unbekannten und nicht niedergeschriebenen Stücke aus der Feder Colemans transkribierte Ohad Talmor fein säuberlich, arrangierte das Material und spielte es im „Seeds“, seinem eigenen Club in Brooklyn, für ein Album ein, das erst nach juristischem Hickhack und mit reichlich Verzögerung veröffentlicht werden durfte.
Was sich auf der CD „Back To The Land“ (Intakt Records) findet, führte Ohad Talmor während eines berauschenden Konzerts im Neuburger Birdland auf. Er und seine vier Mitstreiter zelebrierten die typischen, sehr sanglichen Coleman-Themen in zwei langen Medleys, die alles zu bieten hatten, was guten Jazz ausmachen sollte: die dramaturgisch klug angelegte, auf und ab wogende Musik swingte wie verrückt, zitierte listig, war auf Abenteuer aus, blieb zwei Sets lang unberechenbar und lebte von Gegensätzen, die sich magisch anzogen. Freiheitsdrang mündete im Formbewusstsein, Wildes, Draufgängerisches und berührend Zartes wechselten sich ab.
Spannend war der Abend im Birdland auch deshalb, weil der sehr ausdrucksstark und doch so kontrolliert spielende Talmor in seinem Quintett Instrumentalisten versammelt hatte, die zwar ähnlich ticken, aber ganz unterschiedliche Temperamente besitzen: der kubanische Pianist David Virelles stanzt wüste Cluster in die Tastatur des Bösendorfers, nutzt Wischtechniken, bei denen die Handflächen auch mal nach oben zeigen und sprenkelt Töne wie Jackson Pollock Farben. Einmal lässt er afro-kubanische Rhythmen tänzeln, die dann fast übergangslos in abstrakte Akkordfolgen übergehen. Joel Ross, mit 30 Jahren der Junior in der Band, konnte eindrucksvoll zeigen, warum viele Kritiker ihn für den begabtesten Vibrafonisten seiner Generation halten und ihm darüber hinaus zutrauen, später mal eine Ikone des Jazz zu werden. Dieser Mann mit der Wollmütze und den langen Dreadlocks hat ein wirklich einzigartiges Zeitgefühl, setzt Pausen wie niemand sonst, fällt mit einem ausgeprägten Instinkt für ungewöhnliche aber sehr effektive Betonungen auf und holt mit seinen zwei Schlegeln mehr aus seinem Instruments heraus als viele seiner Kollegen mit vier Klöppeln.
Ornette Coleman propagierte einst, dass jeder Spieler eines Ensembles gleichzeitig für die harmonischen, rhythmischen und melodischen Komponenten der Musik verantwortlich sein sollte, dass es keine klassischen Rollenaufteilungen mehr gibt, dass jeder parallel Solist und Begleiter ist. Weil Ohad Talmor, David Virelles, Joel Ross, der Bassist Chris Tordini und der Schlagzeuger Eric McPherson dieses Prinzip so konsequent beherzigen, bekommt ihre Musik im Konzert einen unwiderstehlichen Drall, ist sie permanent in Bewegung.
Wer weiß, vielleicht haben Ornette Coleman und Lee Konitz, der immer wieder im Birdland zu Gast war, auf ihren Wolken das Konzert im Club ja via Himmels-Livestream verfolgt. Es sollte sie glücklich gemacht haben, was da auf Erden, in Neuburg an der Donau, mit ihrem musikalischen Erbe passiert ist.