Im Nachlass des legendären Altsaxofonisten Lee Konitz fand Ohad Talmor nach dessen Tod 2020 bisher unveröffentlichte Aufnahmen, auf denen jener zusammen mit Ornette Coleman – ebenso Freigeist wie Konitz selbst – zu hören ist. Talmor hat diesen Fund transkribiert, ihm Variationen und eigene Stücke hinzugefügt und stellt das Ergebnis seit nunmehr drei Jahren bei passenden Gelegenheiten an geeigneten Orten immer wieder mal vor. Für dieses Vorhaben scheint kaum ein Ort mehr in Frage zu kommen als der Birdland-Jazzclub in Neuburg, wo beide, Konitz und Talmor, kurz nach der Jahrtausendwende sogar selbst einmal zusammen aufgetreten sind.
„Wir machen das so wie es Coleman gemacht hätte“, sagt Talmor gleich zu Beginn. „Einfach anfangen und ohne Stopps durchspielen. Ich schätze mal, es wird so um die 45 Minuten dauern.“ Dann öffnen Talmor mit seinem Tenorsaxofon, Chris Tordini am Kontrabass, Eric McPherson am Schlagzeug, Joel Ross am Vibraphon und der sensationelle David Virelles am Flügel die Schatztruhe, entwickeln aus deren überliefertem Inhalt einen magischen Sud, ein brodelndes Gebräu aus aufsteigenden Themenfetzen, sich scheinbar zufällig entwickelnden Melodien, die, nachdem man gerade dabei war, sich von ihnen verzaubern zu lassen, wieder verschluckt werden, abtauchen und verklingen. Dieser erste Block – und auch der zweite nach der Pause – enthält sphärische Passagen neben rasenden Arpeggios, vom Pianisten eruptionsgleich aufgetürmte Tonhaufen, die sich wundersam auflösen, während die Band forsch vorprescht, sich treiben lässt oder sich akustisch fast auflöst und nur noch ein mächtiger Bassberg stehen bleibt, um die nächste Sequenz vorzubereiten.
Die einzelnen Teile der beiden Blöcke stehen untereinander in Verbindung, mitunter werden rote Fäden hörbar. Die Musik, die scheinbar völlig spontan entsteht, folgt einem vorher festgelegten Ablaufplan, die sich daraus ergebenden Räume werden vom Solisten nach individuellen Vorstellungen gefüllt. Das bedeutet aber nicht, dass jeder tun kann was er will. Im Gegenteil, man kann sehr gut beobachten, wie das Quintett funktioniert, wie einer auf den anderen hört, die Ideen der Partner zu seinen eigenen macht, mit ihnen spielt, sie transformiert, variiert und weitergibt. Und weil das Ganze ein hochenergetischer Prozess ist und man es hier mit exzellenten Musikern zu tun hat, denen hinsichtlich der Dynamik, der Gestaltung von Spannungsbögen und der Möglichkeiten der Interaktion keiner etwas vormachen kann, gibt es im Laufe des Abends immer wieder Situationen, in denen man meint, in einen Malstrom aus Wirbeln und Spiralen hineingezogen zu werden, was anfangs auf manches Ohr im voll besetzten Birdland vielleicht etwas ungewöhnlich wirken mag, recht bald aber für wohlige Schauer sorgt.
Und dass sich schließlich im Erbe der Herren Coleman und Konitz schließlich dank der Neugier, der unermüdlichen Spurensuche und des Bearbeitungsgeschicks Talmor’s auch noch Spuren von Dewey Redman, Herbie Mann, Billy Higgins und Charlie Haden wiederfinden, ist das Zuckerl obendrauf. Zwei Säulenheilige des Jazz, deren bislang verschollenen Schätze und eine Band, die geradezu prädestiniert ist, sie zu heben. – Was will man mehr?