Nicolas Payton Quartet | 08.03.1996

Neuburger Rundschau | Reinhard Köchl
 

Entlarvt sich der ganze Rummel um Fusion, Hiphop und Rap im Jazz tatsächlich als das, was er wirklich ist, nämlich nur ein Modegag? Vor allem junge farbige Musiker orientieren sich heute mehr denn je an der Tradition aus den 30er, 40er und 50er Jahren. Probates Beispiel für diese These: das „Trompeten-Wunderkind“ Nicolas Payton aus New Orleans.

Die Zutaten, mit denen der gerade einmal 21jährige in den vergangenen Jahren die Karriereleiter bis zur „Down-Beat“-Nummer eins in der Nachwuchs-Kategorie erklomm, schmecken nicht unbedingt nach künstlerischer Revolution. Dafür entdeckt Payton aber im Zeitalter der Schnellfeuergewehr-Musikszene einen längst vergessenen Groove wieder, der anspricht und den Nerv des Publikum auf Anhieb trifft. Wie anders sind sonst die geradezu euphorischen Reaktionen auf das freitägliche Gastspiel des blutjungen Startrompeters im Neuburger Birdland-Jazzclub zu erklären? Jedes seiner elegischen Soli erntete frenetischen Beifall, manchmal sogar verzücktes Kreischen, und selbst als sich die Band schon in den Umkleideraum zurückgezogen hatte, erklatschten sich die beharrlichen Fans eine weitere Zugabe.

Das perfekte, unvergleichliche Birdland-Feeling also, zu dem Nicolas Payton gleich zu Beginn seines zweieinhalbstündigen Gigs höchstpersönlich den Grundstein legte. So kometenartig, wie er unter Mithilfe seines Mentors Wynton Marsalis 1992 in der Musikszene auftauchte, so zelebrierte der bislang prominenteste Künstler der „Rising-Star“-Serie auch seinen Neuburger Auftritt. 110 Kilo purer Resonanzraum betreten die Bühne, beginnen ohne Vorwarnung zu blasen und beschleunigen in wenigen Sekunden von Null auf Hundert wie ein Formel-Eins-Bolide. Wo sich andere bedächtig einzuspielen geruhen und erst einen Ansatz finden müssen, läuft bei Payton sofort der Adrenalinpegel über. Schon dieses knapp achtminütige Anfangssolo vermittelt mehr Power, Substanz und Aussagekraft, als viele zusammenhängende Konzerte anderer Künstler.

Das jazzinfizierte Schwergewicht bewegt sich in allen Stilbereichen, die vor nicht allzulanger Zeit noch als „old-fashioned“ abqualifiziert wurden: wieselflinker Bebop, donnernder Hardbop, beschwingter New Orleans-Swing, schwerer Blues, hüpfender Stride und beseelte Balladen. Vielleicht macht ja auch die durchaus moderne Lesart Paytons mit abstrakten Melodiekonstruktionen den ganz besonderen Reiz seiner Darbietung aus. Technisch kann dem Jungen sowieso keiner das Wasser reichen: akurate, punktgenaue Phrasierungen, lupenreines, strahlendes High-Note-Blowing, grummelnde Down-Growls, schneidende Riffs, peitschenartige Bop-Linien und samtweiche, ohne Dämpfer geblasene Akkorde, die kratzig, wie durch ein Sandpapier gefiltert erklingen, dehnen sein Spektrum auf die gesamte Geschichte des Jazz aus. Allein die Art, wie Payton seine Zunge flattern läßt, hätte bei anderen Trompetern garantiert zu einem sechsfachen Bruch derselben geführt.

Welche Herausforderung jeder Livegig für den Amerikaner darstellt, verdeutlichten die duellartigen Dialoge mit dem enorm hart swingenden Bassisten Eric Reves, dem variantenreichen Drummer Adonis Rose und der zweiten Entdeckung des Abends, dem herrlich sophisticated agierenden, an Bud Powell erinnernden Pianisten Anthony Wonsey. Daß Nicolas Payton nahezu jeden berühmten Trompeter von Louis Armstrong über Fats Navarro, Clifford Brown, Dizzy Gillespie bis hin zu Miles Davis perfekt zitiert, aber dennoch über keinen eigenen Sound verfügt, hängt wohl mit seinem Alter zusammen. Denn mit 21 orientiert sich jeder noch an Vorbildern. Die ganz große Zeit dieses Riesentalentes wird in einigen Jahren kommen – und dem Jazz einen neuen Superstar bescheren.