Schlohweißes Haar, 15 Zentimeter dampfende Zigarillo, rotkariertes Sakko, ein alles durchbohrender Blick und stoische Ruhe – der letzte noch lebende Schamane der ersten Bebop-Generation betritt die Bühne. Mal Waldrons bloße Aura nimmt bereits gefangen, aber seine Darbietung vervollständigt erst recht den tiefen Eindruck von einem gleichermaßen zurückhaltenden wie allgegenwärtigen Menschen, der im Laufe seiner langen, bewegten Karriere ein bedeutendes Kapitel des Jazz mitgeschrieben hat.
Daß der Auftritt des letzten Pianisten von Billie Holiday, der vielleicht größten Jazzvokalistin aller Zeiten, anläßlich eines Sonderkonzertes im Neuburger Birdlandkeller zu einem Ereignis von ganz besonderem Rang geriet, lag an der einzigartigen Fähigkeit des 71jährigen Amerikaners, sein Handwerk als ganz und gar als persönliches Erlebnis zu zelebrieren und dennoch einen musikalischen Flächenbrand zu entfachen, der Musiker wie Hörer gleichermaßen zu erfassen mag. Waldron sperrt sich gegen populistische Zugeständnisse aller Art. Dennoch klingt sein Spiel erstaunlich zeitgemäß, seine morseartige Beschränkung auf rhythmisch-melodische Kürzel entwickelt eine fast hypnotische Wirkung, einen unwiderstehlichen inneren Groove.
Die linke Hand legt den Rhythmus vor, geprägt von sich ständig wiederholenden Figuren, während die rechte mit mächtigem Anschlag melodisch wirkende Minimalmotive dazwischensetzt. Mal Waldron bezeichnete diese inzwischen legendäre Technik einst als „Power of Repetition“. Kaum spürbar und nie gebieterisch lenkt er damit vom Klaviersessel aus das komplette Geschehen. Obwohl die Soli auf wenige Kernaussagen reduziert sind, verraten sie doch mannigfaltige Einflüsse von Thelonious Monks charakteristischer Sekund, Red Garlands engen Linien und Earl „Fatha“ Hines wuchtiger Blockkunst.
Ganz im Banne der Magie Mal Waldrons steht seine Band, die in Fachkreisen als einer der besten Liveacts der europäischen Szene gilt. Ihre Art der dichten Kommunikation beruht auf besonderer innerer Ordnung und Wertschätzung. Der polyrhythmisch wie musikalisch perfekte Drummer Victor Jones lieferte stets die passenden Antworten auf Mals sprechendes Piano, der brillante und unwiderstehlich treibende Bassist Ed Schuller folgte sämtlichen musikalischen Winkelzügen des Meisters, um sie phantasiereich weiterzuentwickeln, wie zum Beispiel in seiner mächtigen Eigenkomposition „I see you now“.
Am weitesten in Waldrons Klangwelt eingedrungen ist freilich der aus Transsylvanien stammende Tenorsaxophonist Nicolas Simion. Er schmiedete im Hofapothekenkeller kleine Meisterstücke aus modalen und harmonischen Fragmenten sowie völlig freien Passagen, verlor aber dennoch nie die große Linie und sorgte für manch melodische Entschlüsselung mit geradezu genialen Zügen. Nicht zuletzt Simion fällt deshalb das dickste Pfund am hochspannenden Aufbau des Sets zu, sei es im völlig frei beginnenden und dann enorm swingenden Waldron-Bebop-Klassiker „Judy Full Grown“ oder dem Höhepunkt des Abends, dem aus seiner Feder stammenden „Transsylvanian Dance“, bei dem der bärtige Bläser sogar zur Baßklarinette griff.
Gerade die treibende Kraft des letztgenannten Stückes führt deutlich vor Augen, daß sich Mal Waldrons Performances selten zu euphorischen Ereignissen der totalen Identifikation entwickeln. Sie wirken vielmehr tiefer: wer die Musik des weißhaarigen Zauberers versteht, geht still und beeindruckt nach Hause, mit dem sicheren Gefühl, das jenes Ereignis noch lange in ihm nachwirkt.