Für Gitarristen war es schon immer reizvoll, eine schneidend-züngelnde Rock-Klampfe auf einer pulsierend-groovenden Woge aus klassischen Jazzinstrumenten surfen zu lassen: Strom verschmilzt mit reiner Akustik. Nur leider gelingt diese Gratwanderung viel zu selten. Auch Nguyên Lê gehört zu denen, die schon leidlich Erfahrungen mit diesem musikalischen Husarenstück sammeln durften. Mal war es bei ihm eine Spur zu viel Elektro, mal purzelten die Jazz-Metren tapsig zwischen den fetzigen Brettern durcheinander. Mit seinem aktuellen „Streams“-Projekt, das der vietnamesisch-französische Weltklasse-Gitarrist jetzt im Neuburger „Birdland“ vorstellte, hat er freilich ein ziemlich stimmiges Maß für seine Lebensaufgabe, nämlich den Dialog der Kulturen, erreicht.
Vor allem gelingt es dem inzwischen 60-Jährigen im Hofapothekenkeller auf verblüffend schlüssige Weise Bezüge zu seinem Heimatland herzustellen, ohne dabei dem Verdacht anheim zu fallen, einen folkloristisch angehauchten, massenkompatiblen Zuckerguss zu servieren. Der 1959 in Paris als Sohn vietnamesischer Eltern geborene Klangküchenchef ist seit Beginn seiner beispiellosen Karriere auf der Suche nach der idealen Rezeptur für barrierefreie, nachhaltige Musik. Als Sensor und Leuchtturm dient ihm bei seinen Abenteuern zwischen Ost und West, Tradition und Moderne, Folklore, Jazz, Pop und Rock in erster Linie seine Gitarre. Mit zunehmendem Alter wurde die Brücke, die Lê zwischen der westlichen Welt der synthetischen Sounds, der Elektronik, des Tanzes, der Improvisation und dem Erbe seiner asiatischen Vorfahren baute, breiter und massiver. Was fehlte, war schlicht das passende Fundament, sprich: die ideale Band.
Diese scheint Nguyên Lê nach jahrzehntelangem Suchen endlich gefunden zu haben. Wie ein Uhrwerk laufen die Rädchen bei seinem Stiefsohn Illya Amar am Vibrafon, dem famosen Bassisten Chris Jennings und Drummer John Hadfield, der immer wieder raffiniert den Beat jazztypisch über die Hi-Hat oder rocküblich über die Snare laufen lässt, ineinander. Das Vibrafon wirkt eher wie ein springlebendiges, melodisches Rhythmusinstrument, der Bass mutiert zum gezupften Saxofon und der Schlagzeuger trommelt Harmonien, als würde er ein Klavier beackern. Der perfekte Nährboden für Lês extrem variable, ausdrucksstarke Gitarre. Mal singt sie wie eine vietnamesische Vokalistin, mal schrappt sie im Shuffle-Rhythmus oder zieht rigoros einen klaren, akkuraten Rock-Scheitel durch die verästelten Arrangements.
Die Band betrachtet es als ihre vorrangige Aufgabe, Nguyên Lê auf seiner Abenteuerreise zwischen dem Fernen Osten und dem nahen Westen zu begleiten, bei Bedarf matt zu schimmern oder solistisch hell zu glänzen. Die vier funktionieren in erster Linie als Einheit – auch und vor allem Nguyên Lê! Amar, Jennings und Hadfield dienen und befeuern extrem spannende Stücke wie „Mazurka“ oder „Fragile Water“, nehmen sich bei Bedarf völlig zurück, damit Nguyên Lê in den Traum-Sequenzen von „Sawira“ – dem besten Stückes des Abends – sein Saiteninstrument wie eine Koto klingen lassen kann. Eine selten gelungene, heftig beklatschte Symbiose zwischen den Mitgliedern einer Jazzband, die angesichts der Prominenz und Qualität der Protagonisten durchaus einige Gäste im „Birdland“ mehr verdient gehabt hätte.