New Tango | 22.03.2002

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Vom Flügel zum Bandoneon sind es drei Schritte, zur Gitarre noch einmal drei. Überraschende Distanz, viel Bein- und Armfreiheit, genügend Luft zum Atmen. Und die Blickverbindung funktioniert auch besser, als in drangvoller Enge. Schließlich spricht man hier mit dem ganzen Körper.

Quique Sinesi etwa rutscht im Neuburger „Birdland“-Jazzclub unruhig vom Temperament der Musik gerüttelt auf dem Stuhl hin und her, während von seiner siebensaitigen Akustischen zauberhafte Fragmente abtropfen. Walter Castro dagegen hat die Augen geschlossen, den Kopf leicht schief gestellt und tippelt mit den Füßen, auf denen sein luftgefüllter Balg liegt. Pablo Ziegler schließlich wirkt von seiner ganzen Physiognomie her wie ein Gaucho: elegant, stolz, die Hände in die Hüften gestemmt, leicht melancholischer Blick und eine überbordende, fast leidenschaftliche Pianistik.

Keine Frage: Es geht um Gefühle, Schmerz, Trauer, Erotik. Es geht um Tango. Oder besser um den „Tango Nuevo“, jene runderneuerte Lesart des berühmtesten argentinischen Kulturgutes, die Astor Piazzolla in den 80ern und 90ern zum modernen Trend erhob. Dass ausgerechnet Ziegler eine Schlüsselrolle bei Piazzollas Schwanengesängen zufiel, qualifiziert den 57-Jährigen aus Buenos Aires automatisch zum Fackelträger. Und nun hauchen er, Sinesi und Castro dem prickelnden Notenmix aus Tragödie, Komödie und Bordell junges Leben ein.

Das proppenvolle „Birdland“ erlebt ein federndes, ineinander verschränktes Musizieren, eine Unmenge gebrochener, kantiger Akkorde, klirrende, zuckende Synkopen, verwirrende Tempiwechsel und Improvisationen im Wiegeschritt. Die Ausrichtung der drei besitzt einen unverkennbaren klassischen Duktus, orientiert sich am reichen Sprachschatz des Milonga (einer Frühform des Tango), des Chacarera, des Candombe und besitzt einen fast sakralen Hang zur Dramatik.

Dabei entstehen gerade vor der Pause einige Momente voller tief empfundener Leidenschaft, knisternder Erregung. Zieglers fliegende Hände erzeugen entweder ein Sommergewitter oder geben der winzigen Fragilität von leisem Schneefall in den Anden eine Stimme. Dazu Quique Sinesis intellektuell ordnende Gitarre oder Walter Castros klagendes, mit jeder Menge Eigenständigkeit gezogenes Bandoneon: Ein sanfter Lufthauch im Nacken, pulsierendes Blut, Hautkontakt, Schweiß.

Allein schon der erste Set hätte den emotionalen Hunger hinlänglich gestillt. Der zweite hingegen führte wegen der unvermindert hohen Dosierung, aber auch wegen der sich ständig wiederholenden Muster unverkennbar zu einer Übersättigung der strapazierten Sinne. Und zeigte auch das Kardinalproblem des Pablo Ziegler auf. Wo seine beiden Partner nämlich der Gleichförmigkeit mit frechen witzigen Attacken trotzten, verflüssigte sich das Ideengerüst des Piazzolla-Adlatus langsam, aber unaufhaltsam zu einem schwülstigen, kitschigen Bächlein, dessen Quelle bei Debussy und dessen Mündung ganz dicht bei Clayderman lag.

Sein 1992 verstorbener Meister hätte sich wohl kaum mit solchen Sentimentalitäten aufgehalten. Piazzolla intonierte den Tango stets lebensklug, voller Bitterkeit und gerade deswegen authentisch. Ein großer, aber vom Publikum diesmal kaum bemerkter Unterschied.