Es ist die Zeit der Sängerinnen. Und es ist durchaus erfreulich, dass Jazzgesang wieder Stellenwert gewinnt, sein Publikum lockt, dem Jazz zu erhöhter Aufmerksamkeit verhilft. Mit Mariette Radtke stellte sich im Birdland Jazzclub einmal mehr eine junge Nachwuchssängerin vor. Die muss sich ihre Vorschusslorbeeren allerdings erst noch verdienen. Begleitet von einer ausgezeichneten Band versuchte sich die grundsätzlich nicht untalentierte junge Dame so fröhlich wie unvollkommen an etlichen der anspruchsvolleren Standards aus dem Great American Songbook.
Da bleibt die Kristallkugel der Wahrsager dunkel: Wer die Zukunft von Mariette Radtke als Jazzsängerin voraussagen will, stochert im Nebel. Mit jungmädchenhaftem Charme und einer geradezu entwaffnenden Naivität gab sie sich so überzeugt von ihrer Darbietung, dass die Trennlinie zwischen Enthusiasmus und Selbstüberschätzung kaum auszumachen war. Bei allem Wohlwollen, das auch das Publikum zum Ausdruck brachte, war unverkennbar: In Punkto Intonation, Phrasierung, rhythmische Sicherheit und Timing ist das unzweifelhaft vorhandene Gesangstalent von Mariette Radtke so ausbaufähig wie ausbaubedürftig. Vielleicht hatte sie sich auch mit dem Repertoire zu sehr gefordert: „Afro Blue“, „Autumn Leaves“, selbst ein eher gängiger Standard wie Richard Rodgers „Thou Swell“ stellen hohe Anforderungen, denen Mariette bei aller natürlichen Fröhlichkeit noch nicht wirklich gewachsen scheint.
Es war die Stunde der Band. Die Rhythmusgruppe mit dem knackigen Martin Zenker am Bass, dem präsenten Michael Keul am Schlagzeug und dem ideensprühenden Bernhard Pichl am Piano gehört mit zum Feinsten, was die bayerische Szene zu bieten hat. Und immer dann, wenn Peter Tuscher oder der grandiose Johannes Enders vor dem Hintergrund dieses hervorragend eingespielten magischen Dreiecks zu ihren solistischen Höhenflügen anhoben, kam Mariette’s Motion Club wirklich in Bewegung.
Da wurde dann plötzlich lebendiger Jazz gespielt. Enders langgezogene Bögen am Tenorsaxophon schwingen sich in so eigenwilliger Stringenz wie flüssiger Logik hinweg über die Klippen und Klüfte eines seeumtosten Archipels wie auf den Flügeln des Seeadlers. Peter Tuscher lässt dazu an der Trompete mit kultiviertem und variablem Ton einer unmittelbaren Spielfreude in munterer Bewegung freien Lauf wie frischem Quellwasser, das über Stock und Stein zu Tal sprudelt. Da lohnt es zuzuhören.