Nachruf auf Lee Konitz | 17.04.2020

Augsburger Allgemeine | Reinhard Köchl
 

Es scheint, als würde Corona eine tiefe Schneise in den alten, den klassischen Jazz reißen, die Generation derjenigen, die dieser Musik erst zu Anerkennung und Popularität verhalfen, nach und nach ausradieren. Nun ist auch der legendäre amerikanische Altsaxofonist Lee Konitz in einem New Yorker Krankenhaus am Mittwoch nach einer Lungenentzündung an den Folgen von Covid-19 gestorben. Dies teilte sein Sohn Josh mit.

Der Tod von Konitz, der 92 Jahre alt wurde, fällt natürlich in das allseits bekannte Erklärungsschema „Risikogruppe“. Dennoch wirft er nicht zum ersten Mal Fragen auf, warum ältere Menschen in den USA und speziell Frauen und Männer, die sich unschätzbare Verdienste für ein kulturelles Alleinstellungsmerkmal ihres Landes erworben haben, nicht besser geschützt werden. Vieles kann im Nachgang nur mit Bitterkeit rekapituliert werden, auch die mangelnde Wertschätzung für den knorrigen, weißhaarigen Musiker in seinen letzten Jahren, in denen er rastlos zwischen Amerika, Polen und Deutschland hin- und herpendelte. Hierzulande kam es noch vor, dass sie ihn feierten, sein Lebenswerk würdigten, wie zum Beispiel im Birdland-Jazzclub in Neuburg, wo Konitz seit der Wiedergründung 1985 zu den Dauergästen zählte. „Wir verlieren einen echten Freund, und ich mein persönliches Idol“ zeigte sich Birdland-Chef Manfred Rehm gestern bestürzt.

Die Konzerte im Neuburger Hofapothekenkeller – es mögen im Laufe der Jahre gut und gerne an die 20 gewesen sein, das letzte fand im November 2017 statt – waren stets Feste der Improvisationskultur. Immer wenn der Meister am Altsaxofon dem Birdland einen Besuch abstattete, zelebrierte er würdevoll eine fast in Vergessenheit geratenen Kunstform, die er im Laufe der vergangenen sieben Jahrzehnte ganz entscheidend mit prägte. Bei Lee Konitz trugen zwar die Titel fast immer dieselben Namen, sie klangen aber jedes Mal anders; in punkto Tempo, Harmonien, Variationen und vor allem aufgrund seines immensen solistischen Einfallsreichtums. Als kleines Zuckerl gab es für Rehm als Zugabe bei jedem Gastspiel stets dessen Lieblings-Standard „Invitation“ – in der jeweiligen Tagesform.

Keiner verstand sich so meisterhaft in der Kunst der Improvisation, wie Lee Konitz. Er nannte es „Instant Composing“, das Komponieren im Augenblick des Spielens. Der 1927 in Chicago geborene Musiker erlangte schon in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre Berühmtheit, als er einen Kontrapunkt zu Charlie Parkers lavaartigen Bebop-Läufen setzen wollte. Mit noch mehr Energie oder Spielfreude war das nicht zu machen. Das wollte Konitz auch nicht, er sah sich nicht als Antipode von Parker. Man kannte und schätzte sich, gerade, weil jeder musikalisch seinen eigenen Weg ging. Ein erstes Ausrufezeichen gelang ihm mit der Mitwirkung bei den Sessions zu Miles Davis epochalem Werk „Birth Of The Cool“ 1949. In dieser doch ziemlich konträren Ästhetik kamen Konitzʼ Sound sowie sein Konzept der motivischen Improvisation bestens zur Geltung. „Cool“ oder gar unterkühlt war die Spielweise von Lee Konitz jedoch weiß Gott nicht. Sein nie versiegendes Füllhorn an Ideen rührte vielmehr von den komplexen Übungen her, die der Pianist Lennie Tristano seinen Mitmusikern auferlegt hatte und sich auf dem schmalen Grat zwischen Barock und Freejazz bewegte.

In Tristanos Umkreis bewegte sich Konitz von Anfang an. Dort wurden immer wieder Inventionen von Johann Sebastian Bach als Material herangezogen. Wenn man dann auf dieser Grundlage wieder über Standards wie „All The Things You Are“ improvisierte, dann klang das in der Tat nicht mehr nach Parker und Bebop, sondern neu und anders. Bis zum Ende seines Lebens vermochte er den Harmoniefolgen dieses Standards immer wieder neue Aspekte abzugewinnen, und nannte seine unzähligen Versionen irgendwann mal augenzwinkernd nur noch „Thingin’“ – was für Konitz zwei elementare Werte vereinte: Thinking (Denken) und Singing (Singen). Seine fließenden Linien besaßen stets sangliche Qualität.

Ohne ihn, diesen Elder Stateman des Jazz, wäre die Improvisation heute nur mehr ein Mythos. Bis zuletzt blieb Lee Konitz zugänglich, offen, interessiert und am Puls der Zeit. Er spielte mit Musikern, die seine Enkel oder gar Urenkel hätten sein könnten. Nicht nur sie werden ihn schmerzlich vermissen.