Nabatov – Reijseger – Sarin | 22.10.2005

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Was passiert da eigentlich? Der Cellist schmeißt einfach den Bogen weg und legt sich den Korpus aufs Knie. Es folgt – ja, doch: ein Bass- oder Gitarrensolo. Etwas, das mehr an Jaco Pastorius oder Bill Frisell erinnert, als an die distinguierte Sterilität eines Konzertsaales.

Dann steigt der Klavierspieler ein, der Schlagzeuger schaufelt mit seinem Besen, und im Neuburger „Birdland“-Jazzclub klingt es doch noch wie ein richtig schön konservatives Pianotrio. Aber was heißt bei Simon Nabatov, Ernst Rejiseger und Michael Sarin schon konservativ? Der russische Pfundskerl an den Tasten lässt nach trügerischer Gleichförmigkeit urplötzlich ein brachiales Clustergewitter hernieder donnern, der amerikanische Drummer haut den Lukas, dass es nur so kracht, während der holländische Cello-Virtuose sich überhaupt nicht meisterlich, sondern völlig enthemmt gibt: Er bullert auf seinem Holzding mit dem funky Slapfinger herum. Seltsame Welt, seltsamer „Jazz“.

Wirklich Jazz? Das kongeniale Eurotrio jongliert beim zweiten Konzert des „Tommy Flanagan Tribut“-Festivals mit allem, was im unmittelbaren Wahrnehmungsbereich des Ohres liegt. Es verletzt bewusst Stilgrenzen, zelebriert den künstlerischen Sakrileg, liebt das Spiel mit den Gegensätzen und verwebt inkompatible Kontraste. Die Drei gefallen sich in der Rolle des bösen Musikers, der mit dem Trenchcoat hinter der nächsten Hausecke lauert, immer einen Überfall auf überlieferte Hörgewohnheiten im Sinn. Über jedem Einsatz liegt ein diabolisches Grinsen, ein geradezu trügerischer Frieden.

Dabei weiß man spätestens nach 15 Minuten wie der Hase läuft. Das Publikum wird zunächst in Sicherheit gewiegt. Dann folgen diesen kleine Teufeleien. Die Stücke beginnen sich zu verändern, mutieren vom glatten, flauschigen Kuschelbär zum kratzigen, stinkenden Ungeheuer. Ein paar säuerliche Avantgarde-Spritzer in den Blues, den Ragtime oder den Swing: Fertig ist dieses absonderliche, hoch spannende, auch handwerklich grandiose Konstrukt. Nabatov, Rejiseger und Sarin treiben alles vom Wohlklang ins Atonale, reißen die Harmoniestrukturen in einem lärmenden Strudel und zerstören, was sie zuvor mühsam aufgebaut haben. Aus dem Schutthaufen der Skalen und zerbröselten Taktstriche lugt mit einem Mal ein fröhlicher Bossa-Akkord hervor, mit dem nun wirklich niemand mehr gerechnet hatte. Das ist Chuzpe. Oder der blanke Wahnsinn.

Wie anders soll man es sonst nennen, wenn das Dreieck durch Rejisegers Komposition „The third Stone“ hetzt, wenn Nabatov mit der Pranke ins Elfenbein drischt, den Klavierdeckel auf- und zuknallt, wenn Sarin galoppiert, als wäre die wilde Jagd hinter ihm her, oder der Holländer mit dem Bogen auf das arme Cello einprügelt und wie ein Zwangsjackenträger jault? Unmittelbar darauf ein völlig reduzierter, leiser, fast meditativer Song. Der schier unglaubliche Cellist hält den Bogen nun zwischen den Zähnen, die Augen geschlossen, und streichelt das zuvor misshandelte Instrument so innig, dass es wie Rieseln von feinem Sand klingt, während der Pianist und der Drummer tupfen und knarzen und offenbar eine Geisterdschunke auf ihrer Fahrt durch den Nebel begleiten. Verrückte, wunderbare Musikwelt.

Die Zugabe hat es noch einmal in sich: Eine herrliche Satire auf den betulichen Swing. Affektiert wedelnde Handtücher auf der Klaviatur, ekelhafte ölige Finger, die zuvor durchs Haar gestrichen sind und nun auf dem Cello-, pardon, dem Gitarrensteg verrutschen, rührend rührende Besen auf der Snare und ein kollektiver Stoßseufzer: Man hat`s nicht leicht in diesem Abenteuerpark der Musik. Aber leicht hat`s einen. Und es lässt einen nicht mehr so schnell los.