Miles Griffith Band | 11.05.2002

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Normalerweise schicken Vokalisten immer ihre Begleitmusiker als Vorhut und lassen diese ein, zwei Songs lang die Stimmung abtasten. Erst danach schreiten die Stars selbst auf einem imaginären Catwalk Richtung Bühne. Miles Griffith dagegen kommt auf Augenhöhe mit der Band in den Neuburger „Birdland“-Jazzclub, schnappt sich ein Mikro und beginnt einfach zu singen. Allein, fünf Minuten lang.

Aber was heißt hier schon singen? Die Art, wie sich der kleine, untersetzte Mann zum Auftakt über „Caravan“ hermacht, gleicht mehr einem Überfall denn einer gediegenen Eröffnung. Er schreit, stöhnt, grunzt, scattet oder kleidet die Textzeilen mit näselnder Stimme in eine rasante, windschlüpfrige Form. Griffith und seine italienischen Kollegen Tony Pancella (Piano), Aldo Vigorito (Bass) und Pietro Iodice (Schlagzeug) drücken mächtig aufs Tempo, ohne es freilich an Nuancen fehlen zu lassen. Sie heizen, dass kein Auge trocken und sogar die Bedienung mit offenem Mund und vollen Gläsern mitten zwischen den Stuhlreihen stehen bleibt.

Der Mann, dessen Stern schlagartig aufging, als ihm Wynton Marsalis vor vier Jahren die Rolle des Jesse in der Jazzoper „Blood on the Fields“ übertrug, kann aber auch anders. Balladen wie „I want to be“ schmecken bei ihm bittersüß wie ein Cocktail aus wildem Honig mit einem Schuss Gin. Der zarte Schmelz seiner enorm flexiblen Stimme erlangt schlagartig eine frappierende mehrdimensionale Tiefe, die oft an den frühen Al Jarreau erinnert.

So gelingt Griffith in einem bewegenden, über zwei Stunden dauernden Konzert tatsächlich das Kunststück, ohne den beliebten Griff in die Pathoskiste nahezu sämtliche emotionalen Grenzen der Musik auszuloten. Ein „normaler“ Sänger hätte damit seine liebe Mühe. Nicht jedoch das Energiebündel aus Brooklyn, das seine Stimme keinesfalls als Sahnehäubchen eines bekömmlichen Jazzmenüs, sondern als gleichberechtigtes Instrument präsentiert. Seltsame, gutturale Laute ausstoßend, perkussiv phrasierend, um den Mund einen Schalltrichter formend und plötzlich Töne ausstoßend, die wie eine gedämpfte Trompete klingen, schmiegt er sich eng an die farbigen Spannungsbögen Pancellas, die bluesigen Schübe Vigoritos und die rhythmischen Achterbahnfahrten Iodices.

Auf diese Weise erlangt die Darbietung der Vier eine ganz besondere Dynamik und Rasanz. Selbst die exorbitanten Soli klingen nie wie Alleingänge, sondern sind Teil eines behutsam aufgebauten Erzählprozesses. „Where were you, when they crucified the Lord?“ (Wo wart ihr, als sie den Herrn ans Kreuz schlugen?) klagt der Stimmband-Seiltänzer inbrünstig schreiend, bevor das Trio in ein gewitterdunkles, hektisches „Summertime“ mündet oder mit „Workin`“ ein gewaltiges souliges Sprungbrett liefert, auf dem ihr Kollege ein Manifest gegen die nach wie vor existente Unterdrückung der Schwarzen in den Hofapothekenkeller hinauskatapultieren kann.

Dieser Griffith ist völlig anders als der Rest. Ein netter Kerl, der seinen Pianisten oder die „Birdland“-Gäste schon Mal auf offener Bühne fotografiert. Ein offener Typ, der singt, was er denkt und fühlt, was sein Gegenüber bewegt. Und ein Künstler, der dem Publikum eine ganze Menge schenkt. Über einem delikaten Bassgroove klopft er sich auf die Brust, bietet sich an und scattet: „Take all of me!“ Schon geschehen. Miles restlos aufgesaugt und so schnell nicht vergessen.