Stell dir vor, es ist Jazz und kaum einer geht hin. Anderswo längst zur gängigen Regel geworden, gehören derartige Mangelerscheinungen in Neuburg zwar noch zu den unangenehmen Ausnahmen. Doch selbst hier sieht sich das ansonsten treue Publikum mit den Verlockungen des beginnenden Sommers zunehmend vor die Qual der Wahl gestellt. Meist besitzt die Entscheidung gegen einen Besuch des „Birdlands“ einen durchaus nachvollziehbaren, wenn auch wenig einleuchtenden Grund, etwa bei talentierten Musikern, denen noch der ganz große Name fehlt.
Im jüngsten Fall von Mike Mainieri blieb den Verantwortlichen jedoch nur noch resigniertes Achselzucken. Der Vibraphonist und Gründer der Kultgruppe „Steps Ahead“ genießt in Amerika längst den Status einer lebenden Legende, weil er neben seinem reichen Jazz-Background auch noch Platten von Pop- und Rockstars wie Billy Joel, Aerosmith oder Paul Simon produzierte. Daß sich beim Konzert des 59jährigen, der normalerweise problemlos die New Yorker Carnegie Hall füllt, nur eine Handvoll fachkundiger Zuhörer in den Keller unter der Hofapotheke verirrte, wirft einen Schatten über die derzeit laufenden Jubiläumswochen des zweitältesten Jazzclubs in Bayern.
Angesichts solcher Resonanz müssen sich die Neuburger Jazzfans in der Tat fragen lassen, ob sie Mainieris Schaffen überhaupt richtig einzuordnen wissen. Wer etwa in Sorge um eine mögliche lärmende Fusiondarbietung ausblieb, der wußte offenbar wenig über die radikale Wandlung der Gallionsfigur der US-Populärmusik, die seit Anfang der 90er zum pur-akustischen Jazz zurückgekehrt ist.
Zusammen mit seiner hochkarätig besetzten Formation „American Diary“ (Drummer Jeff Hirshfield, Kontrabassist Michael Formanek und der phänomenale junge Tenorsaxophonist Chris Potter) wandelt der Soundtüftler nämlich mutig auf den Spuren der klassischen Moderne seines Heimatlandes. Die vier spannen mit harmonischer Raffinesse und improvisatorischem Esprit den größtmöglichen Bogen zwischen beinahe jedem der zahlreichen bekannten amerikanischen Komponisten.
Eine Palette, die von Aaron Copland über Leonard Bernstein bis hin zu Frank Zappa reicht und in keiner Sekunde zur plumpen Verbeugungsveranstaltung mit nationalem Pathos gerät. Mainieri versetzt beispielsweise das berührende „Maria“ aus der „West Side Story“ in eine andere Tonart sowie ein schnelleres Tempo, läßt Potter mit rauhen, farbigen Phrasierungen eine Art düster-graue Stimmung skizzieren, die perfekt in das berstende Rhythmusgerüst von Hirshfield und Formanek paßt. Er selbst setzt am Vibe mit ungewöhnlichen asymmetrischen Kreuzungen viele überraschende Kontrapunkte, treibt an, wie im entfesselten „Crunch“, drosselt, wie im latinogetränkten „Los Dos Lorettas“ oder fordert seine kongenialen Partner in den Soli zur gemeinsamen Neudeutung immergrüner Gassenhauer heraus.
So schenkte das „American Diary“, allen äußeren Widrigkeiten zum Trotz, ein brillantes Live-Erlebnis von herausragender intellektuell-sinnlicher Güte. Nur das überfällige Gegengeschenk an Mainieri blieb leider aus. Schließlich brauchen auch Künstler seines Ranges den Zuspruch des Publikums wie die Luft zum Atmen.